Die brasilianische Jura-Professorin Flavia Portella Püschel zur Situation in ihrem Land

Prof. Flavia Portella Püschel PhD war von Februar bis Juli 2011 Fellow am Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg. Als Visiting Scholar des Exzellenzclusters „Normative Orders“ arbeitete sie zusammen mit Klaus Günther, Professor für Rechtstheorie. Flavia Portella Püschel, die an der größten öffentlichen Universität Südamerikas, der Universidade de São Paulo, Rechtswissenschaften studiert und auch dort promoviert hat, ist seit 2004 Professorin für Privatrecht an der Escola de Direito de São Paulo der Stiftung Getulio Vargas (FVG), eine der auch international anerkannten Privatuniversitäten in Brasilien. Schwerpunkte ihrer Forschung sind das Haftungsrecht und die Theorie der Verantwortung im Recht. (Foto:privat)

Wie leben Sie und Ihre Familie während der Corona-Pandemie in der Metropolenregion São Paulo mit ihren 18 Millionen Einwohnern?

Wir machen uns weiter große Sorgen, denn die Zahlen der Corona-Opfer sind immer noch sehr hoch. Seit Mitte März bleiben wir zu Hause. Raus gehen wir nur zum Einkaufen oder um meine Eltern zu besuchen. Wir hatten einen monatelangen Lockdown, aber zurzeit gibt es in São Paulo fast keine Einschränkungen mehr. Es gilt immer noch Maskenpflicht, aber die meisten Geschäfte haben ganz normal offen, auch Restaurants, Kneipen und Kinos bei reduzierter Kapazität. Die meisten Schulen sind immer noch zu. Unsere zweijährige Tochter geht seit dem 9. November endlich wieder in den Kindergarten. Die Kontaktbeschränkung ist für Kleinkinder besonders schlimm gewesen. 

Frau Professor Portella Püschel, Sie sprechen perfekt Deutsch, haben einen Teil Ihrer Kindheit in der Nähe von Aachen verlebt, Ihr Großvater war Deutscher. Später haben Sie an der Münchner Uni für Ihre Promotion geforscht. Wäre eine akademische Karriere in Deutschland auch ein denkbarer Weg gewesen?

Ja und nein! Die Zeit, die ich in Deutschland verbracht habe, war sehr anregend und zentral für meine Ausbildung. Außerdem war das auch eine sehr glückliche Zeit für mich. Ich habe mich in Deutschland immer wie zu Hause gefühlt. Auf der einen Seite wäre ich also sehr gerne geblieben. Auf der anderen Seite aber fühle ich mich sehr mit Brasilien verbunden, und die brasilianischen Probleme sind eigentlich das, was mich zum Jurastudium bewegt hat. Nicht zuletzt muss man auch sagen, dass die akademische Laufbahn in Deutschland, zumindest in den Rechtswissenschaften und zu jener Zeit, Ausländern nicht besonders offenstand.

Impulse aus der Begegnung mit Habermas

Als junge Wissenschaftlerin hatten Sie das Glück, in kleiner Runde an einer Veranstaltung mit Jürgen Habermas teilzunehmen. Berichten Sie uns davon! Haben Sie damals schon Kontakte zu Frankfurter Professorinnen und Professoren aufgebaut?

Das war eine Masterclass am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, die 2013 in Heidelberg stattfand – also nach meiner Zeit als Visiting Scholar und Fellow am Exzellenzcluster. Sie stand in Beziehung zu meinem damaligen Forschungsprojekt. Es war sehr interessant, weil man im kleinen Kreis diskutieren konnte. Außerdem hat Professor Habermas jedem Teilnehmer die Möglichkeit gegeben, mit ihm auch im Einzelgespräch das eigene Forschungsprojekt zu besprechen.

In meinem Projekt – das noch nicht abgeschlossen ist – geht es um die juristische Verantwortung von Organisationen. Wegen der großen Macht, die Organisationen heute haben, ist es wichtig, die Verantwortung solcher autonomen Wesen klar zu regeln. Ansonsten können diese Organisationen ein großes Risiko sowohl für die Freiheit der Individuen als auch für die Demokratie darstellen. Ziel meiner Arbeit ist es also zu hinterfragen, unter welchen Umständen es möglich ist, Organisationen die Fähigkeit autonomen Handelns zuzuordnen, und ob es somit angebracht ist, sie als verantwortungsfähige Wesen zu behandeln. Dieses Forschungsprojekt ist aus meiner früheren Arbeit über Zivil- und Strafrechtliche Verantwortung hervorgegangen, welche auf der Grundlage der Diskurstheorie aufbaut. Wichtigste theoretische Grundlagen für diese Arbeit waren die Werke von Klaus Günther und Jürgen Habermas. Die Diskurstheorie, wie sie von Habermas vertreten wird, hat ein großes Potenzial, um die Verantwortung im Recht zu begründen. Allerdings hat meine bisherige Arbeit auch gezeigt, dass die Existenz von rationalen kollektiven Wesen eine Überarbeitung der Theorie selbst verlangt. 

Finden bei Ihnen die meisten Veranstaltungen wie an der Goethe-Uni virtuell statt? Wie hat sich der Alltag an Ihrer Universität mit circa 450 Jura-Studierenden verändert? 

An der Juristischen Fakultät der FGV finden seit März überhaupt alle Veranstaltungen virtuell statt. Es ist trotzdem sehr viel los. Die FGV hat sehr schnell reagiert, und die Umstellung hat sehr gut funktioniert.

Wie nehmen die Studierenden die Situation an? Wie klappt die Kommunikation?

Die Studierenden haben die Situation ganz tapfer angenommen. Sie würden natürlich lieber persönlich Vorlesungen und Seminare besuchen können und fühlen sich durch die lange Zeit vor dem Bildschirm oft sehr müde, aber machen trotzdem mit. Für Lehrkräfte ist es auch nicht gerade einfach, muss ich zugeben. Aber ich habe auch viel gelernt. Ich habe sogar selber Zeichentrickfilme gemacht, um die virtuellen Vorlesungen interessanter zu gestalten.

Der internationale Austausch ist für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von enormer Bedeutung, zurzeit können Kongresse meist nur virtuell stattfinden. Wie fühlt sich das für Sie an? 

Virtuelle Kongresse sind nicht ideal, denn oft sind gerade informelle Gespräche, die man zum Beispiel in der Kaffeepause führt, die wahre Gelegenheit, sich über gemeinsame Forschungsinteressen auszutauschen. Trotzdem haben virtuelle Kongresse auch eine gute Seite: Die Teilnahme wird weniger aufwendig, so dass mehr Menschen an mehr Veranstaltungen beteiligt sein können.

Wie schaut es aus, gibt es an Ihrer Universität aktuell Gastwissenschaftler oder Studierende oder sind die Programme ausgesetzt? Sind auch Ihre Studierenden betroffen, die einen Auslandsaufenthalt geplant hatten?

Bei uns sind zurzeit leider alle Programme für internationale Gastwissenschaftler und Gaststudenten stillgelegt. Auch unsere Studenten, die am Anfang des Jahres an ausländischen Unis waren, mussten zurückkommen. Für 2021 ist alles noch ganz unklar.

Mittelkürzungen und Einschüchterungsversuche

Sie forschen und lehren an einer privaten Universität, damit sind Sie nicht unmittelbar betroffen von den Einsparungen an den staatlichen Universitäten.Bei den Geistes- und Sozialwissenschaften wurde bis zu einem Drittel der Mittel gekürzt – eine der ersten Maßnahmen des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Wie ist die Lage an den staatlichen Universitäten? Was hören Sie von Ihren Kolleginnen und Kollegen?

Die Lage war schon wegen der wirtschaftlichen Krise nicht gut und hat sich unter Bolsonaro weiter verschlechtert. Das ist für die Unis, die vom Bund finanziert werden, besonders schlimm, aber auch für alle Forscher – vor allem die Promovierenden. Viele sind auf Finanzierung vom CNPq, die wichtigste Stiftung für die Förderung von Wissenschaft in Brasilien, angewiesen. Und diese Stiftung ist abhängig vom Ministerium für Wissenschaft, Technologie, Innovation und Kommunikation. Aber auch in den Bundesstaaten werden öffentliche Gelder für Forschung gekürzt. Der Gouverneur von São Paulo hat dieses Jahr schon zweimal versucht, den Haushalt der Förderung-Stiftung des Staates zu kürzen. Zum Glück traf er noch auf politischen Widerstand.

Das Schlimmste sind aber die Einschüchterungsmethoden, die typisch für autoritäre Regimes sind und von der Bolsonaro-Regierung eingesetzt werden. Ein Beispiel dafür ist das Namenverzeichnis, das vom Justizministerium zusammengesetzt wurde und in dem 597 Beamte, darunter auch drei Universitätsprofessoren, genannt werden, die zu einer angeblichen „antifaschistischen Bewegung“ gehören. Insgesamt wächst der Druck auf Andersdenkende, indem die Regierung keine klare Position bezieht, wenn diese Politiker oder Aktivisten angegriffen oder gar ermordet werden. Hier nur ein Beispiel, das weltweit Beachtung fand – die Ermordung der linken Politikerin Marielle Franco, die gegen die Kriminalisierung der Favelas gekämpft hat: Ermittlungen legen inzwischen sogar eine Nähe von Bolsonaros Sohn zu einer Miliz offen, die in Marielles Ermordung verwickelt sein könnte.

In Brasilien leben Millionen armer Menschen in den Favelas der Großstädte, ihre Jobs im informellen Sektor sind überwiegend weggebrochen, die Regierung Bolsonaro hat die Corona-Hilfen für Tagelöhner, Einkommensschwache und Arbeitslose inzwischen halbiert. Wie nehmen Sie in São Paulo die Aktivitäten von NGOs, aber auch Privatinitiativen wahr, die versuchen, diesen Menschen zu helfen? 

Ich bekomme es eigentlich nur durch die Presse und die Sozialen Medien mit. Aber es verwundert nicht, dass die krasse Ungleichheit, die es in der brasilianischen Gesellschaft schon immer gegeben hat, durch die Corona-Krise noch schlimmer wird. Es gibt zum Glück viele NGOs und Privatinitiativen, die sich engagieren. Doch das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Beobachten Sie, dass das Engagement nachlässt, je länger die Pandemie andauert?

Ich habe das Gefühl, dass diese Hilfsinitiativen weiter stark sind. 

Ihre Kollegin, die Venezolanerin Prof. Mariela Morales Antoniazzi, Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, erklärte jüngst in einem Beitrag des Magazins „Max Planck Forschung“ „Lateinamerika zu einem Notstandsgebiet der politischen Moral“. Würden Sie dem beipflichten? 

Ja, das trifft auf Brasilien auch zu. Aber ich würde sagen, dass ein solcher Notstand eigentlich nicht neu ist. Immer wieder werden große Korruptionsaffären aufgedeckt, ohne dass man sie bislang durch rechtliche oder politische Maßnahmen verhindern konnte.

Die südamerikanischen Verfassungen gelten als sehr fortschrittlich, so sind die Menschenrechte klar verankert, aber auch soziale Grundrechte. Nichts als Papier? Oder zumindest ein „Anker“ für Gruppen der Zivilgesellschaft, um Missstände öffentlich anzuprangern und Klagen beim jeweiligen Verfassungsgericht, in Brasilien dem „Supremo Tribunal Federal“, einzureichen?

Vieles ist eben nichts als Papier geblieben. Vieles hat sich aber doch verwirklicht, oft durch Klagen beim „Supremo Tribunal Federal“, dem brasilianischen Verfassungsgericht. Vor allem bei Rechten von Frauen und sozialen Minderheiten – Homosexuelle, Afrobrasilianer – wurden durch Verfassungsklagen wichtige Fortschritte erzielt. Durch die Corona-Krise wurde zum Beispiel anerkannt, wie wichtig das Sistema Único de Saúde (SUS), das allgemein zugängliche Gesundheitswesen, ist, das in der Verfassung festgeschrieben wurde. 

Wie steht es um die Rechtsstaatlichkeit in Brasilien? 

Nach meiner Meinung: unter Druck und in großer Gefahr. Wie sich die brasilianische politische Krise weiterentwickelt, wird in großem Maße vom Supremo Tribunal Federal abhängen. Das Problem ist, dass das Supremo Tribunal Federal in seiner Struktur selbst problematisch ist. Dazu gehören verschiedene Mängel: beispielsweise das Verfahren der Berufung der Richter, die Aufteilung in zwei Senate und die große Macht der einzelnen Richter. So ist das Gericht tatsächlich anfällig, instrumentalisiert zu werden.

Wie wird in der wissenschaftlichen Community darüber diskutiert?

Unter Juristen wird das Supremo Tribunal Federal schon lange dafür kritisiert, dass es oft nicht kohärent entscheidet. Viele Urteile werden von einzelnen Richtern getroffen und weichen in ähnlichen Fällen voneinander ab. Einzelne Richter können es verhindern, dass Fälle überhaupt entschieden werden. Das alles beschädigt die Legitimation und schwächt das Vertrauen in das Gericht. 

Ihr aktuelles Forschungsprojekt „Rechtliche Argumente der Höheren Gerichte“ ist Teil einer Forschungslinie „Institutionen des demokratischen Rechtsstaats und der politischen und sozialen Entwicklung“. Können Sie kurz beschreiben, warum es in diesem Projekt geht? 

Dieses Projekt befasst sich mit der Frage der Legitimation von Gerichtsurteilen durch ihre argumentative Rechtfertigung und damit direkt mit der Frage der Rechtsstaatlichkeit. Es geht darum zu prüfen, wie unsere beide Höheren Gerichte – das Supremo Tribunal Federal und das Superior Tribunal de Justiça – ihre Urteile rechtfertigen, ob sie kohärent entscheiden, usw.

Das Projekt hat mehrere Teile. Einer davon ist eine quantitative Analyse der Rechtsprechung des Superior Tribunal de Justiça in Schadensersatzfällen, an der auch Professoren der Juristischen Fakultät der Getulio Vargas Stiftung in Rio de Janeiro und der Universidade Estadual do Rio de Janeiro (UERJ) beteiligt sind.

Fragen: Ulrike Jaspers

Dieser Beitrag ist in gekürzter Version in der Ausgabe 6.20 (PDF) des UniReport erschienen.

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