Herausforderungen Europas diesseits und jenseits von Corona

Astrid von Busekist, neue Alfred Grosser-Professorin, forscht zu Sprachpolitik, Grenzen, Nationen und Nationalismus sowie demokratischer Pluralismus.

Die diesjährige Inhaberin der Alfred Grosser-Gastprofessur des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften, eine Kooperation mit der Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main, ist Prof. Dr. Astrid von Busekist, seit 2001 Professorin für Politische Theorie an der Sciences Po in Paris. Ihr stadtöffentlicher Vortrag mit dem Titel „Träume von Räumen. Exkurs über die Grenze“ findet digital am Dienstag, 23.02.2021, um 19:00 Uhr c.t. statt.

UniReport: Frau Professorin von Busekist, das Corona-Virus ist sicherlich seit letztem Frühling das bestimmende Thema in der europäischen Politik. Wurden damit andere wichtige Themen, wie zum Beispiel Migration, an den Rand gedrängt?

Astrid von Busekist: Das ist zweifellos zum Teil richtig, aber gleichzeitig ist das Problem der Grenzen und damit der Migration eng mit der Debatte über die Bekämpfung des Virus verbunden. Was gestern galt und heute noch gilt, ist, dass es immer die Schwächsten sind (sei es aufgrund ihrer fragilen Gesundheit, ihres Alters oder ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation), die den höchsten Preis zahlen. Die Pandemie erinnert mich an das Dilemma, mit dem die Amerikaner nach dem Hurrikan Katrina in New Orleans konfrontiert waren, und damit an die Frage der Prioritätensetzung und des Preises für das Leben: Welche Leben sollen zuerst gerettet werden, wenn man nicht alle retten kann? In New Orleans war das Kalkül utilitaristisch und daher zynisch: Wir mussten die Leben retten, die zu retten waren, ohne das Leben von Feuerwehrleuten und Ordnungskräften zu gefährden. Den Preis für diese Politik zahlten z.B. die Übergewichtigen (überwiegend Arme), die schwer zu evakuieren waren. Ich weiß nicht, welche Lehren wir daraus für heute ziehen können, außer dass Armut und damit verbundene Fettleibigkeit nicht in der Verantwortung des Einzelnen liegen und es daher moralisch verwerflich ist, Menschen aufzugeben, die als weniger lebenswert angesehen werden.

Der etwas schleppende Start der Corona-Impfungen in Deutschland hat in der deutschen Öffentlichkeit zu einer Kritik an der europäischen Impfstrategie geführt. Könnte die Pandemie nationalen Egoismus befeuern, was lässt sich diesbezüglich in Frankreich beobachten?

Ich kann Ihnen auf zwei Weisen antworten. Zuerst sachlich.
In Frankreich war der Start noch viel langsamer als in Deutschland, und wir hinken immer noch hinter mehreren europäischen Ländern hinterher. Frankreich hat sich für eine sehr vorsichtige Strategie entschieden, mit einem sehr engen gesetzlichen Rahmen, der den Beginn der Impfung verlangsamt hat (der nötige Konsens aller Impfkandidaten, die Diskussion über die entsprechende Infrastruktur, die Debatte über das medizinische Personal, das zur Impfung berechtigt ist, usw.). Außerdem hat die hohe Zahl der Impfskeptiker (fast 50 % der Franzosen lehnen eine Impfung ab oder ziehen es vor damit zu warten, aber diese Rate scheint sich täglich zu ändern) die politischen Behörden zur Vorsicht gemahnt. Die Medien schieben die Schuld abwechselnd auf Frankreichs eigene Organisationsmängel oder die Abhängigkeit von Europa, weil die Länder, die schneller impfen, insbesondere Israel oder Großbritannien seit dem Brexit, nicht oder nicht mehr an die gemeinsame Politik gebunden sind.

Hat es Sinn von „nationalem Egoismus“ zu sprechen? Würde er sich von Wirtschaftspatriotismus oder anderen Formen des Egoismus unterscheiden? In der heutigen Situation, sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas, scheint es mir, dass er hier noch akuter zum Ausdruck kommt. In solchen Zeiten verliert der Einzelne sein Selbstvertrauen, das Vertrauen in die Autoritäten, ob wissenschaftlich oder politisch, und weiß nicht mehr, was wahr und was Meinung ist: Wenn Medizinprofessoren in Fernsehsendungen zum gleichen Thema gegensätzliche Meinungen äußern, vertreten sie eine wissenschaftliche Wahrheit oder einfach eine Meinung zur Wissenschaft? Konfrontiert mit dieser Vielzahl von Signalen, befindet sich der Bürger in einer Situation, die Emile Durkheim in seinem Werk über den Selbstmord als „anomisch“ bezeichnete: Er weiß nicht mehr, was er denken soll, was er tun oder nicht tun soll, was er tun oder nicht tun kann. Kann man dem Einzelnen vorwerfen, dass er zuerst sein Leben und das seiner Angehörigen retten will? Kann man von Einzelnen oder der Gemeinschaft erwarten, dass sie sich in einer Krisensituation altruistisch verhalten?

In diesem Jahr wird die 16-jährige Kanzlerschaft von Angela Merkel enden. Wie schaut man von der anderen Seite des Rheins auf Merkel, welche Erwartungen und auch Befürchtungen hat man hinsichtlich des Wechsels im Kanzleramt?

Die deutsche Stabilität ist sowohl beruhigend als auch befremdlich für Frankreich, das in den Jahren von Angela Merkels Kanzlerschaft, vier Präsidenten (Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emmanuel Macron) erlebt hat. Das liegt zum einen an der Natur des französischen Regimes – wie in den Vereinigten Staaten kann der Präsident nur zwei Amtszeiten absolvieren – und zum anderen an der sinkenden Popularität, die Präsidenten während ihrer Amtszeit erfahren. Unter diesem Gesichtspunkt fasziniert Merkels Beharrlichkeit die französische Öffentlichkeit.

Heute ist ihr Image zweifelsohne weitgehend positiv, aber das war nicht immer so. Einerseits wurden während der Griechenlandkrise ihre Strenge, Unnachgiebigkeit und Unflexibilität kritisiert, andererseits dann ihre Migrationspolitik gelobt. Schließlich wurde ihr Engagement für die europäische Solidarität während der Coronakrise begrüßt und gleichzeitig an die Rolle erinnert, die Präsident Macron in dieser Entwicklung gespielt hat. Die Franzosen bewunderten die Art und Weise, wie es Deutschland gelang, den Virus zumindest während der ersten Welle zu beherrschen, umso mehr, als sie eine gewisse Vorliebe für masochistische Selbstgeißelung haben. In diesem Wirrwarr gegensätzlicher Gefühle ist es schwierig, Neid, Eifersucht und Missgunst zu trennen. Verständnis und Freundschaft bügeln die Lust am Wettbewerb nicht unbedingt aus.

Allerdings ist es immer schwierig, über Frankreich im Singular zu sprechen. Frankreich ist, wie Deutschland, ein politisch geteiltes Land. Die Extremen lassen keine Gelegenheit aus, ihr Misstrauen gegenüber Deutschland zum Ausdruck zu bringen, indem sie sagen, dass dieses Europa ein deutsches Europa ist. Die Mitte (links und rechts) plädiert für Stabilität und Kontinuität nach dem Abschied von Frau Merkel (ob in einer großen Koalition oder einer Schwarz-Grünen Koalition). Die extreme Linke und die radikale Rechte hingegen warten auf eine Erneuerung: eine Annäherung an die Grünen und mehr soziale Politik auf der Linken, eine Annäherung an die AFD für Marine Le Pen.

Mit anderen Worten: Die deutsche Innenpolitik ist wichtig für die französische Innenpolitik. Die Verbindung zwischen unseren beiden Ländern ist so eng, dass die Innenpolitik des einen die Innenpolitik des anderen beeinflusst. Bedeutet dies, dass es eine gemeinsame (europäische) Meinung gibt? Nicht unbedingt, aber „betroffene Interessen“ gibt es: So wie wir alle von der Wahl des amerikanischen Präsidenten betroffen sind, ohne amerikanische Staatsbürger zu sein, werden die Franzosen und die Europäer von der Ernennung des neuen deutschen Kanzlers „betroffen“ sein.

Der Schatten auf dem Bild? Ihr Nachfolger wird ein Mann sein. Nach Frau Merkel werden nur noch drei europäische Länder von Frauen regiert werden.

In der politischen Linken wird momentan darüber gestritten, ob die Israel-Boykott Bewegung BDS („Boycott, Divestment, Sanctions“) pauschal als antisemitisch zu bezeichnen ist. Sie haben zu Antisemitismus und Antizionismus geforscht, wie schätzen Sie die Bewegung ein? Was halten Sie von der Bundestagsresolution, in der BDS als antisemitisch bezeichnet wird?

„Pauschale“ Verurteilungen machen mich immer etwas misstrauisch. Um Ihre Frage zu beantworten, müssten die genauen Punkte, um die es in dieser Resolution geht, geklärt werden. Mir scheint, dass sich drei Fragen stellen: Ist Antizionismus Antisemitismus? Was ist die politische Ideologie der BDS-Bewegung? Was könnten legitime Sanktionen sein?

Die erste Frage beantworte ich ohne Zweifel: Israel das Existenzrecht abzusprechen, was die korrekte Definition von „Antizionismus“ ist, ist de facto Antisemitismus. Es ist in der Tat schwierig, zwischen dem Diskurs über die Illegitimität des Staates und dem antisemitischen Denken zu unterscheiden, dem alten, das wir kennen, und dem neuen, das sich abzeichnet und sich immer weniger zurückhaltend äußert. Mit dieser Feststellung lasse ich mein Urteil über die Fairness der israelischen Politik gegenüber der palästinensischen Bevölkerung, insbesondere in den von Israel kontrollierten Gebieten im Westjordanland, vorläufig beiseite.

Zweites Thema: die Ideologie von BDS. Einerseits wird sie von den Anhängern eines einzelnen Staates getragen. Ihre Aktivisten haben die von der „Peace Now“-Bewegung vertretene Idee von zwei Staaten aufgegeben, die ich bevorzuge. Es würde zu lange dauern, hier die Konsequenzen einer Einstaatenlösung für beide Bevölkerungen zu diskutieren. Sagen wir einfach, dass sie der israelischen linken Mitte, die die Vorherrschaft des Likud beenden will, sicherlich nicht dienlich ist. Andererseits verfolgt die Bewegung das falsche Ziel, indem sie die Gedankenfreiheit und die Verbreitung von Ideen angreift. Wir wissen, dass die Bewegung besonders in den Universitäten aktiv ist und dass sie ihre Energie darauf verwendet, den Austausch zwischen israelischen Akademikern und europäischen oder amerikanischen Akademikern zu verhindern. Ein Klick auf die verschiedenen BDS-websites reicht: die Modelle von negativen Reaktionen auf Einladungen oder akademischen Austausch sind zahlreich vorhanden. Lassen Sie mich hinzufügen, dass der israelische Staat selbst nicht immer angemessen reagiert, zum Beispiel wenn er BDS-Mitgliedern die Einreise nach Israel verbietet. Dieses Verbot verwischt den wirklichen Unterschied zwischen der Kritik an der Besetzung der Gebiete und der Opposition gegen Israel im Allgemeinen. Hier, wie auch anderswo, ist die gemäßigte Position der Demokraten – die Existenz und das Wohlergehen des Staates Israel zu verteidigen, aber die Politik seiner Regierung zu kritisieren – schwer in Einklang zu bringen.

Der dritte Punkt ist die Natur der Sanktionen. Es scheint mir, dass sie gerechtfertigt sein können, wenn sie intelligent sind: sogenannte „smart sanctions“ in Konflikten. Gezielt angewandt zum Beispiel, auf Produkte, die ausschließlich aus den besetzten Gebieten kommen, und die Wirtschaft und die Sicherheit beider Seiten nicht untergraben. Aber wir wissen auch, dass diese Unterscheidung schwer umzusetzen ist.

Sie haben sich intensiv mit der politischen Dimension von Sprache und Sprachen beschäftigt. In Europa findet man eine große Diversität von Sprachen, was für die Verständigung auch eine Barriere darstellen und Grenzen undurchlässig machen kann. Bedarf es einer vereinheitlichenden Sprachpolitik, einer eigenen europäischen Lingua franca?  Oder wie lässt sich Mehrsprachigkeit händeln? Welche Schlüsse kann man anhand des Beispiels Belgien ziehen?

Belgien ist kein Beispiel oder Laboratorium mehr für eine vertretbare Sprachenpolitik: Die beiden großen Gemeinschaften leben in unterschiedlichen politischen, sozialen und sprachlichen Welten, und der Unterricht in der Sprache der anderen ist seit Jahrzehnten nicht mehr verpflichtend.

In Europa und in der wissenschaftlichen Literatur scheiden sich die Geister an der Frage, ob man eine Lingua franca etablieren oder im Gegenteil eine besser koordinierte Mehrsprachigkeit beibehalten soll. Eine effektive und weniger kostspielige Sprachenpolitik würde zur Einführung einer oder mehrerer Linguae francae tendieren. Eine gerechtere, großzügigere Politik würde darauf abzielen, so viele Sprecher wie möglich einzubeziehen: Sie würde darin bestehen, das europäische System so zu koordinieren, dass eine bessere Verteilung der sprachlichen Güter möglich ist. Wenn wir uns für ein System entscheiden würden, in dem nur Englisch (die pragmatischste Lösung, da Englisch bereits unsere Lingua franca ist) oder sogar eine Dreier-Ehe (zwischen Englisch, Französisch und Deutsch, den drei klassischen Hauptsprachen der Union) eingeführt würde, bliebe die Ausschlussquote, d. h. die Zahl der Bürger, die keine dieser drei Sprachen beherrschen, sehr hoch und würde in einigen Ländern oder Regionen 70 % übersteigen.

Meine Idee ist, dass Sprachen als „politisch qualifizierend“ verstanden werden sollten. Auf individueller Ebene muss man analysieren, wie der Zugang zu Sprachen (Amts-, Landes-, Zweitsprachen) erreicht wird. Auf der kollektiven Ebene muss man die Auswirkungen von Sprachkenntnissen auf die politische Partizipation, die Gleichberechtigung und die individuelle Autonomie untersuchen.

Aus einem normativen Blickwinkel, dem der Gerechtigkeit, behindert der ungleiche Zugang zu sprachlichen „Gütern“ die Möglichkeit, seine Rechte geltend zu machen. Denn Sprachen sind primäre und öffentliche Güter, die, wenn sie nicht egalitär zur Verfügung gestellt werden, Ungleichheiten, Herrschaft und Ausgrenzung als Konsequenzen haben. Die Besonderheit von Sprachen liegt in drei Tatsachen. Man kann sie nicht öffentlich „vernachlässigen“, so wie man sich z.B. nicht in religiöse Angelegenheiten einmischen würde, die Privatsache sind, weil Staaten „sprechen“. Zweitens sind Sprachen Güter, die nicht auf die gleiche Weise verteilt werden können wie andere Güter – Wohnraum oder Gesundheitsversorgung. Die Staaten können jedoch „Zugangsrechte“ und sprachbezogene Dienstleistungen (Übersetzung, zweisprachige Wahlzettel, Berücksichtigung von Minderheiten usw.) anbieten. Schließlich können Sprachen sowohl in Bezug auf Interesse als auch auf Identität analysiert werden. Im ersten Fall wird ihr instrumenteller Nutzen in Frage gestellt (sie verbinden so viele Menschen wie möglich); im zweiten Fall werden Sprachen als zu bestimmten Kulturen gehörend und als Ausdruck unserer wahren Identität gesehen.

Die beiden Ansätze schließen sich nicht aus, aber die Ziele unserer Politik müssen klar sein: Sollen sie die Identität der Sprecher unterstützen und in eine öffentliche Politik der Unterstützung und Aufnahme aller Sprachgemeinschaften münden? Oder sollen sie im Gegenteil die Einbeziehung der größten Menge in die demokratische Debatte fördern? Die erste Option birgt die Gefahr, zu einer Balkanisierung der Gemeinschaften zu führen, die zweite zu dem voreiligen Schluss, dass nur eine von allen geteilte Lingua franca angemessen ist. Die beste Lösung besteht zweifellos darin, die bestehende Mehrsprachenpolitik zu vertiefen und die territorialen Regime zu erhalten, ohne notwendigerweise auf pragmatische Linguae francae zu verzichten. Aber es ist wichtig, dass wir uns zu einer „tugendhafteren“ Politik des Sprachenlernens verpflichten. Und das gilt sowohl für europäische Bürger als auch für Migranten, denen kostenlose Lernzyklen angeboten werden müssen. Dies ist eine Voraussetzung sowohl für die Integration als auch für die Mobilität innerhalb Europas.

Sie haben sich in einem Aufsatz mit dem „Unaussprechlichen“ befasst. Dieses Thema würde man eher in der Sprachphilosophie oder Literaturwissenschaft, weniger in der Politikwissenschaft vermuten. Können Sie erklären, warum diese Kategorie für Sie auch etwas mit der Demokratie und Öffentlichkeit zu tun hat?

Dieser Aufsatz hatte sowohl philosophische als auch politische Bedeutung. Einer der Aspekte des Themas ist die Meinungsfreiheit oder das Verbot von Meinungen in Demokratien.

Ein guter Maßstab für die Unterscheidung zwischen Sagbarem und Unsagbarem ist die Unterscheidung zwischen persönlichen Meinungen und Vorlieben auf der einen Seite – darüber kann man diskutieren – und dem, was sich auf unsere Identität bezieht (Geschlecht, ethnische Beziehungen, oder Religion zum Beispiel). In der Praxis ist es jedoch schwierig, die Grenze zu ziehen.

In den Vereinigten Staaten ist die Meinungsfreiheit fast unbegrenzt. Strafmaßnahmen kommen erst im Nachhinein ins Spiel, wenn öffentliche Äußerungen z. B. Gewalt verursachen. In Frankreich und Deutschland ist das anders. Beide Staaten begrenzen die Meinungsfreigeit durch eine Reihe von Gesetzen. Die Bundesrepublik beispielsweise durch Art. 5.2 des Grundgesetzes, oder § 130 StGB der die „Auschwitzlüge“ betrifft). Frankreich in ähnlicher Art, indem es die Meinungsfreiheit einrahmt. Es ist verboten, sich öffentlich abwertend, rassistisch, antisemitisch oder diffamierend zu äußern (Loi Gayssot, 1990). Der überzeugteste Liberale kann nicht ignorieren, dass er sich im Rahmen gemeinsamer Institutionen äußert und dass er an die allgemeinen Prinzipien gebunden ist, die seine Gesellschaft regieren. Meinungsfreiheit setzt voraus, dass jeder ein gewisses Maß an Anstand oder Abstand akzeptiert. Das ist kritisches Denken. Doch der düstere Fall der Charlie-Hebdo-Karikaturen und die Ermordung der Journalisten im Jahr 2015 zeigt, dass der Konsens fragil ist: wo soll man die Grenze ziehen zwischen legitimen Spott, strafbarer Handlungen, und Angriff auf die Identität von Individuen oder Gruppen? Der jüngste Fall des Mordes an einem Hochschullehrer, Samuel Paty, zeigte dies auf ebenso grausame Weise.

Können Sie uns schon verraten, worum es in Ihrem stadtöffentlichen Vortrag „Träume von Räumen. Exkurs über die Grenze“ an der Goethe-Universität schwerpunktmäßig gehen wird?

Ich werde wahrscheinlich versuchen zu zeigen, dass die beiden „maximalistischen“ Thesen zu Grenzen weder empirisch noch theoretisch befriedigend sind. Ich meine die Befürworter offener Grenzen auf der einen Seite, die glauben, dass alle Grenzen illegitim und unvertretbar sind; die bösen Nationalisten auf der anderen Seite, die gegen allen politischen Pragmatismus und moralische Rücksichtnahme versuchen, dichte Grenzen aufrechtzuerhalten. Ich werde versuchen, einen dritten Weg vorzuschlagen: den einer gerechten und rationalen Öffnung der Grenzen und einer fairen Einwanderungspolitik.

Fragen: Dirk Frank

Eine gekürzte Version dieses Interviews ist in der Ausgabe 1/2021 (PDF) des UniReport erschienen.

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