Denis Thouard, Inhaber der Alfred Grosser-Gastprofessur im Wintersemester 2021/22, spricht im Interview mit dem UniReport über die heutige Rolle der Geistes- und Sozialwissenschaften, über seine Beschäftigung mit Kant und Schleiermacher und über die Aktualität von Georg Simmel.
UniReport: Herr Professor Thouard, wir leben in bewegten Zeiten – sind das eigentlich günstige Voraussetzungen für die Akzeptanz und Relevanz der Geisteswissenschaften?
Denis Thouard: Dass man in bewegten Zeiten lebt, kann auch heißen, dass wir keine Zeit finden für die nötige Überlegung, für die Distanznahme von der unmittelbaren Aktualität. Deswegen ist dieser Prozess der Beschleunigung, der unsere Epoche zu charakterisieren scheint, nicht unbedingt günstig für die Geisteswissenschaften wie auch für die Philosophie. Man bekommt überall den Eindruck, dass die Zeit kostbar ist, dass man „keine Zeit“ mehr hat. Auch im Bereich des Wissens wird immer mehr nach Ergebnissen, Fakten und Daten gefragt, ohne dass man sich für die Art und Weise, wie diese Ergebnisse entstanden sind, kümmert. Man googelt mal schnell und nutzt Wikipedia. Wer wird aber noch ein Ohr für die „langweilige“ Komplexität, für die die Geisteswissenschaften stehen, haben? Da aber die Komplexität der heutigen Welt meist unüberschaubar ist, so fällt man immer leichter in die Versuchung, stattdessen auf einfache Lösungen, auf einfache Schemata zu rekurrieren. In der Politik heißt das vielleicht „Populismus“, der zu allen Problemen anscheinend greifbare Lösungen bietet. Es ist der Wahn, dass Ergebnisse und Fakten, die man jetzt in Sekundenschnelle über das Internet bekommt, ausreichen. Insofern ist die schwierige Akzeptanz der Geisteswissenschaften kein Zeichen, dass diese auf irgendwelche Weise aus der Gesellschaft ausgegrenzt wären. Das ist sicher nicht der Fall, sondern es ist eher das Zeichen von einem Unterschied der Zeitlichkeit: Denken braucht Zeit, aber das alltägliche Leben, das öffentliche Leben, das politische Leben sowieso haben immer weniger Zeit. Wenn man in den Medien Experten aus dem Bereich der Geisteswissenschaften einlädt, haben diese meist nur ganz wenig Zeit, um ihre Erklärung abzugeben. In so kurzer Zeit kann man grundsätzlich keine Kenntnisse vermitteln und keine Reflexion entwickeln. Zugleich spürt man auch zunehmend, denke ich mir, dass ein gewisser Bedarf an Reflexion entsteht; die Aufgabe der Geisteswissenschaften, sogar der Philosophie, wäre es, diesem Bedarf zu entsprechen und den Sinn für die Komplexität zu entwickeln. Wissenschaft und Technik prägen heute unsere Lebenswelt. Die Ereignisse auf der ganzen Welt bekommen wir quasi unmittelbar zu spüren. Man bräuchte aber daher immer mehr Erläuterungen, Deutungen, Interpretationen, Erklärungen, um damit adäquat umgehen zu können. Je komplexer die Gesellschaft wird, desto mehr brauchen wir also die Geisteswissenschaften und auch die Philosophie. Zusammengefasst: Es ist eine schwierige Akzeptanz, weil Denken Zeit braucht, aber zugleich auch eine große Akzeptanz, weil der Komplexität dieser Welt ohnehin nicht ohne einen gewissen Umgang mit der Reflexion und mit der Pluralität der Diskurse zu begegnen ist.
Die Welt wird zunehmend von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz geprägt, spricht da nicht einiges für eine Dominanz der Natur- und Technikwissenschaften?
Was bei einer breiten Anwendung von Algorithmen verloren geht, das ist der „Umweg“ über die Urteilsbildung. Das heißt einerseits, dass man weniger Fehler macht, aber auch andererseits, dass man eine gewisse menschliche Kontrolle über das Verfahren aufgibt. Nicht die Technikwissenschaft als solche oder nicht eine vermutliche Dominanz der Naturwissenschaften wären das Problem, sondern die Verkürzung der Interaktivität, der Wechselwirkung zwischen Benutzer und Benutztem zwischen den technischen Verfahren und dem sozialen Sinn, wenn man will. Von Rousseau stammt eine Bemerkung, die uns immer noch zum Nachdenken anregen kann: „Plus nos outils sont ingénieux, plus nos organes deviennent grossiers et maladroits: à force de rassembler des machines autour de nous, nous n’en trouvons plus en nous-mêmes.“ Also ungefähr: „Je raffinierter unsere Werkzeuge sind, desto plumper und unbeholfener werden unsere Organe: Indem wir Maschinen um uns herum sammeln, finden wir keine mehr in uns selbst.“ Dieses Fazit würde ich anders als Rousseau interpretieren, als einen Ansporn zur Reflexion. Die Externalisierung des Wissens sowie des Gedächtnisses erfordert von uns eine breitere Fähigkeit zu reflektieren, wenn wir aus dieser Welt nicht expropriiert sein wollen. Auch in der Naturwissenschaft hat man natürlich mit Interpretationen zu tun: Man muss, bevor man etwas abmisst oder quantifiziert, Kriterien finden, wonach man verfährt. Hat man dann bestimmte Daten isoliert und quantifiziert, muss man abermals interpretieren. Das ist der normale Gang in den Naturwissenschaften, also die Wechselwirkung zwischen objektivierenden Verfahren und sinnhafter Aneignung. Ohne diese kann man auch keine Wissenschaft, keine Naturwissenschaft betreiben. Spricht man von einer „Dominanz“ der Naturwissenschaften, so heißt es, dass man diese schon verkürzt und an ihr nur die Dimension der Quantifizierung betrachtet, nicht aber die der Interaktivität. Deswegen erscheint mir die allzu pauschale Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften bzw. Sozialwissenschaften als ungenügend. Die heroische Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts bediente sich auch der Werkzeuge und Begriffe der sogenannten Geisteswissenschaften. Zum Beispiel sie hat viel von der Philologie übernommen. Wissenschaftler wie Galilei oder auch Newton haben sich oft mit Texten beschäftigt. Die Sicherheit der Beweisführung und erfahrungsgesättigter Verfahren der Naturwissenschaften findet natürlich in den Geistes- oder Sozialwissenschaften nicht ihresgleichen. Trotzdem sollte sich immer ins Gedächtnis rufen, dass es keine Wissenschaft gibt, deren Ergebnisse nicht in einen bestimmten historischen und sozialen, kulturellen Kontext eingebettet sind, der sich stets ändert.
Sie sind als Geisteswissenschaftler sehr der deutschen Philosophie zugetan, haben Bücher unter anderem über Schleiermacher und Kant veröffentlicht. Bedarf es eigentlich immer auch einer akademischen Vermittlung für eine gewinnbringende Lektüre solcher und anderer »alter« Texte?
Ich sehe eigentlich diese Texte überhaupt nicht als „alt“ an, vor allem, wenn man sich die Schriften von Kant anschaut. Natürlich sind sie in einer Sprache geschrieben, die wir nicht mehr so sprechen. Kant ist eigentlich ein Übergangsdenker: Er steht an den Anfängen der deutschen Sprache als philosophischer Sprache; er schreibt noch in den ersten Schriften Latein oder Latein in seinem Deutsch und entwickelt sich erst allmählich zu einem deutschen Schriftsteller – zu dem Autor etwa von „Was ist Aufklärung?“ Diesen Übergang kann man an seinem Werk beobachten. Aus diesem Grund bedarf es vielleicht einer Vermittlung, aber die Gedanken, die er uns nahebringt: Was ist Freiheit? Was ist Vernunft? Was heißt denken, urteilen? usw., das bleibt natürlich ebenso aktuell, wie es zu seinen Zeiten war. Man kann also die absolute Relevanz und Aktualität eines Denkers wie Kant feststellen, es ist in meinen Augen ganz evident im Vergleich zu anderen Autoren wie Schleiermacher, welcher ja gewöhnungsbedürftiger ist, zumal für ein französisches Publikum, welchem die protestantische Theologie nicht so vertraut ist und wo dieser Hintergrund nur von wenigen Leuten vertraut ist. Für einen solchen braucht man eine andere Art der Vermittlung und das ist auch teilweise die Aufgabe des Philosophiehistorikers und in dem Fall habe ich auch als solcher gewirkt. Mein Ziel war zu zeigen, dass wenn man sich die Mühe gibt, einen Autor wie Schleiermacher zu lesen – so bekommt man eine anregende Ansicht auf die Welt des Wissens, auf die Entstehung des Wissens aus dem Streit durch die Dialektik. Man entdeckt mit ihm einen Denker der Vermittlung, der aber nicht unbedingt den Konsens fördert, sondern tiefer in die Widersprüche geht und aus den Widersprüchen heraus Lösungen erfindet; das ist zum Beispiel einer der Gründe, warum man sich gern mit Schleiermacher beschäftigen kann, aber es besteht auch für Leute, die sich mit Texten beschäftigen, die große Relevanz seiner Hermeneutik, seiner Theorie des Verstehens und des Lesens, die überhaupt nicht veraltet ist.
In Ihrer Auseinandersetzung mit Georg Simmel haben Sie es sich wiederum zum Ziel gesetzt, dessen kritisches Potenzial für zeitgenössische Fragen zu erproben. Wo könnte dieses Potenzial liegen, können Sie ein Beispiel nennen?
Im Falle von Simmel haben wir es mit einem Werk zu tun, das uns noch sehr viel zu sagen hat. Warum? Er war einer der Gründer der Geisteswissenschaften, also genauer gesagt: der Sozialwissenschaften. Er hat die Moderne, „unsere“ Moderne um 1900, erlebt, beobachtet und akribisch interpretiert. Dies war schon die Zeit des Geldes, der allgemeinen Beweglichkeit, der Städte usw. Er hat dies getan, indem er nach einer neuen Wissenschaft suchte, der Soziologie, aber auch indem er versuchte, diese steigende Beweglichkeit der Sachen und der Menschen in der modernen Gesellschaft prozessual zu denken. Er hat eine Betrachtungsweise entwickelt, die überhaupt nicht dinghaft realistisch oder nur formal wäre, sondern die der allgemeinen Beweglichkeit der sozialen Beziehungen gerecht sein könnte. Dafür hat er alles in statu nascendi betrachtet, also alles als im Werden genommen und nicht als Ergebnisse oder als Wesenheiten. Dieser Standpunkt, den er entwickelt hat, ist an sich sehr kritisch. Man muss aufpassen, dass man nicht wieder zu den üblichen Denkgewohnheiten zurückkehrt, z. B. Abstraktionen personifiziert und als Wesenheiten nimmt – was wir unvermeidlich tun, weil unsere Sprache uns dazu führt bzw. verführt, wenn man sagt, „London meint“ das oder das, „die Bürger denken“ das und das … Das ist vielleicht unvermeidlich, aber als kritische Sozialwissenschaftler müssen wir darauf achten, dass die individuelle Prozessualität hinter solchen pauschalen Ausdrücken nicht verloren geht, da diese Ausdrücke eigentlich nur Etiketten sind. Wir brauchen einen Sinn für die Beweglichkeit und für die Zeitlichkeit dieser Prozesse, eine andere Betrachtungsweise, und mit ihr eine andere wissenschaftliche Sprache. Diese Welt und die Beziehungen, die sie ausmachen, ändern sich ständig, sie werden sich ab und zu verfestigen und schon wieder auflösen. Diese doppelte Bewegung der Verfestigung und der Auflösung ist genau im Zentrum der Betrachtungsweise, die Georg Simmel zu seiner Zeit entwickelt hat. Eine solche Betrachtungsweise bleibt auch für uns heutzutage auch in den gesellschaftlichen Debatten ganz wichtig. Ein Beispiel aus der Debatte in Frankreich – ein Grund, warum ich mich mit Simmel beschäftigt habe: Es gibt dort eine Grenze in der Debatte der Geistesund Sozialwissenschaften zwischen denen, die alles vom Standpunkt der Gesellschaft sehen, auch wenn sie meinen, dass sie diese nicht verdinglichen, und denen, die immer alles vom Standpunkt der Individuen betrachten. Zwischen beiden Lagern lässt sich schwer vermitteln, aber dieser Gegensatz gilt eigentlich für einen Georg Simmel überhaupt nicht. Simmel behauptet seinen Sinn für Ganzheiten, was er „objektiven Geist“ nennt, also für das Überindividuelle und für die Strukturen, die man als gesellschaftlich bezeichnen kann. Aber darüber hinaus vergisst er nie, dass diese Strukturen, auch wenn sie eine eigene Gesetzlichkeit entwickeln, doch von dem Wirken der Individuen abhängen.
Sie haben sich in Vorträgen und Publikationen auch mal mit der Frage beschäftigt, ob die Philosophie populär werden soll. Als Inhaber der Grosser-Professur werden Sie ja auch nicht (nur) zu einem Fachpublikum sprechen, sondern auch zu interessierten Bürgerinnen und Bürgern. Wie stellen Sie sich dieser Herausforderung? Gibt es auch die Gefahr einer Popularisierung der Geisteswissenschaften?
„Popularisierung der Geisteswissenschaften“ oder der Philosophie ist an sich schon paradox. Es ist ein Paradox, weil – wie ich bereits gesagt habe – Philosophie (oder Geisteswissenschaften) erstmal aus dem Sinn für Komplexität zutage kommt, so dass ohne Sinn für die Problemhaftigkeit der Welt keine Philosophie aufkommen kann. Ohne die Möglichkeit, ein und dasselbe Ding von verschiedenen Standpunkten her zu betrachten, gäbe es keine Geisteswissenschaften, keine Philosophie. Will man diese aber popularisieren, das heißt, dass man sie zugänglich machen will, womöglich auch vereinfachend vermitteln, so ist das nur bedingt möglich. Bei einem Verständnisprozess läuft es anders als bei dem Modell der Kommunikation als reine Mitteilung von Inhalten. Man hat mit einer Beziehung zu tun, die beiderseits gilt. Der Zuhörer, der Empfänger, muss auch aktiv sein und ein Begehren für die Frage entwickeln; der Sprechende, der Lehrende, muss aufpassen auf die Bedingungen der Rezeption seiner Rede und muss auch diese Rede so profilieren, dass sie nie als eine anonyme allgemeine Rede aussieht, sondern dass sie sich an den Adressaten sich richtet. Die Gerichtetheit der Rede ist sehr wichtig. Sie findet in einem guten Austausch statt. Es gibt aber keine Garantie, dass es stattfindet, das ist das Geheimnis der Unterhaltung: Man muss Wissen, mit wem man zu tun hat, um genau das machen zu können, was wir sagen, also um genau das vermitteln zu können, was im Spiel ist. Die Beziehung ist also eine gegenseitige, oder um das sehr schöne Wort von Simmel zu gebrauchen: Es ist eine Wechselwirkung. Es gibt keine Popularisierung, die nicht auch im Kern eine solche doppelte Beziehung enthielte, das heißt eine Wechselwirkung zwischen einem Wissenden und einem Publikum, das nach dem Wissen strebt.
Können Sie schon sagen, mit welchen Themen und Fragestellungen Sie sich im Rahmen Ihrer Grosser-Professur in Frankfurt beschäftigen möchten?
Wir werden beim ersten Vortrag mit dem Thema der Vergesellschaftung anfangen und dann die Unterschiede zwischen dem, was Simmel entwickelt, also diese Prozessualität, und dem, was wir dazu bei anderen Zeitgenossen finden, zum Beispiel bei Marx, Darwin, Spencer, Durkheim und anderen, diskutieren. Wir werden uns mit verschiedenen Aspekten der Werke von Georg Simmel auseinandersetzen und uns dabei immer fragen, was sagt das uns für die gegenwärtigen Probleme? Abschließend werde ich bei dem städtischen Vortrag über ein anderes Thema reden: über das Lachen als politische Angelegenheit. Warum und wie ist es eigentlich so kompliziert, zu lachen? Warum gibt es Orte, wo man nicht lachen darf, an anderen schon? Durch das Lachen kommt man zu moralischen und politischen Aspekten des Zusammenlebens und deswegen kann es durchaus sinnvoll sein, sich ernsthaft mit dem Thema zu beschäftigen.
Fragen: Dirk Frank
NEUE GROSSER-PROFESSUR
Der stadtöffentliche Vortrag mit dem Titel »Politik des Lachens« wird voraussichtlich in Präsenz am Montag, 07. Februar 2022 um 19:00 Uhr c.t. im Casino-Gebäude, Renate von Metzler-Saal, Cas 1.801, stattfinden. Sollte eine Präsenzveranstaltung nicht möglich sein, wird der Vortrag digital angeboten; auch hierzu wird zeitnah informiert.
Die »Alfred Grosser-Gastprofessur für Bürgergesellschaftsforschung« wurde 2009 auf Initiative der Deutsch-Französischen Gesellschaft von der Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main gestiftet. Mit dem Projekt sollen die Forschung und der öffentliche Diskurs über die Bürgergesellschaft am Standort Frankfurt vorangebracht und international sichtbar gemacht werden.
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 5/2021 (PDF) des UniReport erschienen.