Katja Lange-Müller: „Gute Erzählungen ähneln Brühwürfeln“

blog_unireport_lange-müllerDer UniReport (Ausgabe 4.16) sprach mit Katja Lange-Müller über ihre Vorgänger der Frankfurter Poetikdozentur und ihre Zeit als Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim.

Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller hat in ihren fünf Frankfurter Poetikvorlesungen über »Das Problem als Katalysator« doziert. Der UniReport hatte nach der dritten Vorlesung, in der sie sich unter anderem mit Kurt Tucholsky und Wolfgang Hilbig beschäftigte, die Gelegenheit, mit ihr zu sprechen – natürlich erst, nachdem sie unzählige Bücher signiert hatte.

Frau Lange-Müller, Sie sprachen in der ersten Vorlesung darüber, dass Sie ohne Abitur und akademische Bildung eigentlich gar nicht zur Goethe-Uni passen. Haben Sie sich mittlerweile hier etwas akklimatisiert?

Naja, so richtig habe ich die akademische Welt hier in Frankfurt ja nie kennen gelernt, so gesehen kann ich da gar nichts zu sagen. Ich denke aber mal, dass das, was ich hier zu sagen habe, nicht so ganz unakademisch ist. Vielleicht suche ich aber auch gar nicht die Nähe zur Wissenschaft? Man hat an der Uni manchmal den Eindruck, dass die Schriftsteller nur etwas geschrieben hätten, um den Literaturwissenschaftlern eine Freude zu machen, aber so ist es definitiv nicht (lacht). Ein Problem ist sicherlich, dass der akademische Diskurs die Menschen leider oft davon abhält, sich mit literarischen Fragen zu beschäftigen, lesend zu beschäftigen. Und natürlich habe ich mit meinen Vorlesungen genau das Gegenteilige im Sinn: dass die Zuhörer nicht über Literatur lesen, sondern einfach die Literatur selbst!

Sie waren 1989 Stadtschreiberin in Bergen-Enkheim, gar nicht so weit vom Campus Westend entfernt. Was haben Sie für eine Erinnerung daran?

Ziemlich gute! Ich hatte damals viele Möglichkeiten dort: Kollegen einladen, eine Ausstellung machen, mit Menschen reden. Da ich den Westen zu der Zeit noch nicht besonders gut kannte, habe ich mich auch im Ort Bergen-Enkheim etwas umgeguckt, habe viele Menschen kennen gelernt, zum Beispiel Monika Steinkopf, die damals dort noch Buchhändlerin war, oder Dragi, die Gastwirtin. Die Bergen Enkheimer sind daran gewöhnt, dass dort ständig Autoren herumlaufen. Die haben keine Hemmungen, auf der Straße mal zu fragen, wie es einem so geht. Ich kam mit dieser Offenheit gut klar; andere Schriftsteller waren und sind da vielleicht etwas menschenscheuer. Mein Kollege Peter Bichsel ist wohl in seiner Zeit dort zu fast jeder Beerdigung gegangen; davon sind die Bergen-Enkheimer heute noch begeistert – so war das bei mir denn doch nicht (lacht).

Marcel Beyer, Ihr direkter Vorgänger bei den Frankfurter Poetikvorlesungen, war auch Stadtschreiber in Bergen-Enkheim …

… und Wolfgang Hilbig, über den ich heute gesprochen habe, auch!

Was halten Sie von dem frischgebackenen Büchner-Preisträger Beyer?

Ich kenne ihn lange und gut, schätze ihn sehr. Sowohl als Dichter als auch als Prosaautor, sofern man das bei ihm überhaupt trennen kann. Denn auch wenn er Prosa schreibt, ist er vor allem Dichter. Das, was Marcel Beyer macht, würde ich auch nie Lyrik nennen, das fände ich zu albern: Das ist Dichtung. Ach, überhaupt ist der Beyer ein fabelhafter Kerl!

Und wie finden Sie Clemens Meyer, der im letzten Sommersemester hier Poetikdozent war? Seine Vorlesungen haben die Zuhörer doch bisweilen etwas überrascht, um es vorsichtig auszudrücken.

Als Autor schätze ich ihn sehr, seine Frankfurter Poetikvorlesungen kenne ich nicht. Aber ich habe mir das Buch zu seinen Vorlesungen, das jetzt bald erscheint, schon bestellt. Er erzählt in seiner Literatur ja auch von den plebejischen Menschen, und darin ist er mir schon sehr nahe. Und er ist darüber hinaus jemand, der sich sehr für seine Kollegen interessiert, beispielsweise für den Leipziger Dichter Andreas Reimann, den man hier im Westen seltsamerweise kaum kennt. Ich lege in meinen Vorlesungen auch den Fokus auf Dichter, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen, Dichter wie Kurt Tucholsky, Adolf Endler oder Wolfgang Hilbig.

Wenn Sie sich hier die jüngeren Leser von Literatur anschauen: Haben dann Ost-Autorinnen und -autoren noch eine Chance, stößt die DDR-Literatur noch auf Interesse?

Diese Autoren kommen doch nur aus dem Osten, die schreiben nicht unbedingt darüber! „Wenn man nur über die DDR schriebe, wäre das auch Zeitverschwendung“, hat Heiner Müller mal gesagt, und das, als es die DDR noch gab. Das ist ja auch so ein Vorurteil, das Autoren nur über das schreiben, was um sie umgibt. Das trifft auf einen wie Wolfgang Hilbig sowieso nicht zu. Seine Erzählung „Die Flaschen im Keller“, aus der ich heute Auszüge vorgetragen habe, handelt von der Sucht – einem existenziellen Thema, das nun wirklich nicht auf den Osten beschränkt ist. Das muss ich hier in Hessen, wo man zum Apfelwein gerne mal einen Calvados trinkt, wohl nicht extra betonen.

Sie haben in einer Vorlesung Ihre Vorliebe für kurze und prägnante Erzähltexte thematisiert, besonders Erzählungen. Beliebt sind aber heute gerade dicke „Schwarten“, z. B. historische Romane.

Es gibt nur ganz wenige umfangreiche Romane, von denen man behaupten könnte: Aus denen lässt sich sozusagen ‚kein Wasser mehr rausquetschen‘. Aber viele Romane sind doch unverhältnismäßig lang. Und Leser, selbst die bravsten, leben ja nicht ewig.

Suchen die Leser vielleicht zunehmend spannende Unterhaltung, aber keine hochliterarische Erleuchtung mehr?

„Erleuchtender“ als Romane sind Erzählungen auch nicht. Es geht nicht um Erleuchtung, außer vielleicht in der Kirche. In der Erzählung geht es ums Artistische, um Sprache und Prägnanz und Verknappung, eben um das, was sich in Erzählungen ganz anders zeigt als in vielen Romanen.

Sie haben in Ihrer Vorlesung heute über Kurt Tucholsky gesprochen. Er hat mal die Metapher des „Fleischextraktes“ verwendet, mit Blick auf die monologische Erzählweise von James Joyce. Nicht direkt genießbar, aber damit könne noch viel gekocht werden. Sie haben vom „Brühwürfel“ gesprochen …

Ja, so ähnlich habe ich das auch gemeint: Der Leser muss sich seine Brühe je nach Gusto selber verdünnen, mit mehr oder weniger Wasser. Eine sehr naheliegende Metapher, wenn es um kompakte Extrakte geht, also um Texte, denen alles Überflüssige entzogen wurde. Ich persönlich lecke ja auch gerne mal an einem Brühwürfel …

Eine Frage zu Ihrem Roman „Böse Schafe“, der in der Vorwendezeit in West-Berlin spielt: Sie haben ja mal Ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, dass diese Zeit von Autoren mit Missachtung gestraft werde.

Mit dem Verschwinden der DDR hat man sich intensiv auseinandergesetzt, aber mit dem viel radikaleren Verschwinden des ‚insularen‘ Westberlins der 80er Jahre kaum, von Sven Regeners „Herr Lehmann“ einmal abgesehen.

Wie sehen Sie als Berlinerin die Stadt heute?

Der Name Berlin ist ja eigentlich eine Metapher für die permanente Metamorphose. Keine andere Stadt hat sich so oft und so schnell verändert. Das kann man bedauern oder auch toll finden – es ist, wie es ist. Dass wir alteingesessenen Aborigines mit diesen Veränderungen zu kämpfen haben, kann ich nicht von der Hand weisen. Das Gespenst der Gentrifizierung geistert nun auch durch Berlin, und zwar wirklich durch jeden Bezirk!

Was würden Sie dem geneigten Leser als Einstieg in Ihr Werk empfehlen?

„Verfrühte Tierliebe“, „Die Letzten“ und „Böse Schafe“ – die drei Bücher bilden ja fast so etwas wie eine Trilogie.

Die Fragen stellte Dirk Frank

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 4-2016 des UniReport erschienen [PDF].

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