Politikwissenschaftler Thomas Zittel über das Projekt »Kommunalwahlkompass«

Prof. Dr. Thomas Zittel (Foto: privat)

Prof. Dr. Thomas Zittel ist Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Goethe-Universität. Er leitet u. a. ein internationales Verbundprojekt zur Responsivität von Abgeordneten und ist Sprecher der Themengruppe »Vergleichende Parlamentarismusforschung« in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. Im Rahmen des Projektteams »Kommunalwahlkompass« leitet er ein Projektmodul zu den Kandidatinnen und Kandidaten bei Kommunalwahlen.

UniReport: Herr Prof. Zittel, wie ist die Idee für den Kommunalwahlkompass entstanden?

Thomas Zittel: Das Instrument der Online-Wahlhilfe ist eine generelle Entwicklung, die durch Wandlungsprozesse auf der Wählerebene motiviert ist, wie die steigende Distanz zu politischen Parteien und die subjektive Wahrnehmung, dass sich die Parteien nicht mehr unterscheiden. Durch Online-Wahlhilfen soll zur politischen Orientierung und Urteilsbildung der Wählerinnen und Wähler in zunehmend unübersichtlichen Wettbewerbsmärkten beigetragen werden. Die Motivation für den Kommunalwahlkompass entstand aus der Beobachtung, dass Online- Wahlhilfen auf der kommunalen Ebene bislang kaum genutzt wurden, obwohl gerade hier das politische Angebot durch die spezifischen lokalen Parteiensysteme und das personalisierte Kommunalwahlrecht besonders komplex ist. In großen Kommunen wie Frankfurt ist das besonders ausgeprägt und zeigt sich an einem überlangen Wahlzettel.

Orientieren sich Menschen an den Ergebnissen solcher Kompasse? Oder bleibt man trotz einer anderslautenden Wahlempfehlung eher seiner angestammten Partei treu?

Diese Frage soll mit den Methoden der Politikwissenschaft im Rahmen des Kommunalwahlkompasses untersucht werden. Bis dato wissen wir dazu nur sehr wenig. Die Nutzung einer Wahlhilfe beruht auf Selbstselektion, ist also eine eigene Entscheidung. Hier stellt sich die Frage, ob das Instrument Wählerinnen und Wähler erreichen kann, die mit Parteien und Wahlen nur noch wenig anfangen können. Die verfügbaren Studien deuten darauf hin, dass solche Instrumente vor allem von denjenigen genutzt werden, die durch hohes politisches Interesse und ein Mindestmaß an politischer Orientierung ausgezeichnet sind. Beeinflusst das Instrument das Wahlverhalten derer, die es nutzen? Viele verfügbare Studien verweisen auf subjektiv wahrgenommene Effekte. Die Nutzerinnen und Nutzer fühlen sich in der Regel gut informiert und berichten von Verhaltenseffekten. Aber ob diese Effekte auch tatsächlich auftreten, ist eine der Fragen, die im Rahmen des Projekts untersucht werden wird.

Kommt der Kommunalwahlkompass vor allem dem Wechselwähler gelegen, der mehr auf einzelne Sachthemen schaut?

Ja, es ist intuitiv plausibel, davon auszugehen, dass Online-Wahlhilfen vor allem von politisch interessierten Wählerinnen und Wählern genutzt werden, die Wechselwähler sind, also über keine ausgeprägte Parteibindung verfügen. Das Wählen ist in dieser Gruppe nicht die Folge eines verlässlichen „Bauchgefühls“, sondern entfaltet sich auf der Basis von Sachthemen als „rationaler“ Entscheidungsprozess. Die demokratiepraktische Bedeutung des Kommunalwahlkompasses liegt darin, dass diese Wählergruppe unterstützt werden kann. Aber auch jene Wählerinnen und Wähler sollen angesprochen werden, die das diffuse Gefühl haben, dass sich die Parteien nicht mehr unterscheiden. Dieses Gefühl hat viel mit der gesteigerten Komplexität von Politik zu tun und mit dem, was die Politikwissenschaft die „Depolitisierung von Sozialstruktur“ nennt; das heißt politische Streitfragen und die damit verbundenen Positionen sind in geringerer Weise mit sozial-strukturell verankerten Sachverhalten verbunden. Ihre Vermittlung auf der Wählerebene ist deshalb „abgedämpft“ oder gar vollständig „gestört“. Das Angebot der Online-Wahlhilfen schafft die Möglichkeit, das diffuse Gefühl ununterscheidbarer Programme an der Realität zu überprüfen und sich den sachpolitisch definierten Parteienstreit auf diese Weise neu zu erschließen.

Der Kommunalwahlkompass ist dezentral angelegt: Er wird nicht nur in großen Städten, sondern auch kleineren Gemeinden verfügbar sein. Das ist sicherlich sehr aufwendig.

Der hohe Aufwand wird durch die Zusammenarbeit vieler Akteure gut bewältigt. Die wesentliche Arbeit zur Auswahl der Gemeinden und zur Identifikation der relevanten Themen wurde in einem Lehrprojekt an der TU Darmstadt geleistet, das von PD Dr. Christian Stecker geleitet wird, der auch Initiator und Leiter des Kommunalwahlkompasses in Hessen ist. Diese Arbeit war unterstützt durch zivilgesellschaftliche Akteure vor Ort und durch die Evangelische Akademie Frankfurt, die ein offenes Forum zur Diskussion einer ersten Fassung der Gemeindethesen für uns organisiert hat. Dr. Michael Jankowski von der Universität Oldenburg und das dortige Institut für Informatik (OFFIS) spielen eine wichtige Rolle bei der konzeptionellen und technischen Entwicklung der Wahlhilfe und der damit verbundenen wissenschaftlichen Begleitforschung. Last but not least wird der Kommunalwahlkompass auch durch finanzielle und ideelle Förderung unter anderem durch die Landeszentrale für Politische Bildung durch die Digitalstadt Darmstadt und durch die Frankfurter Allgemeine Zeitung möglich.

Bedarf es heute eines neuen Schwungs, um gegen Wahlmüdigkeit vorzugehen, vor allem auf kommunaler Ebene? Politolog*innen wie Ihre Kollegin Frau Prof. Geißel forschen daher zu neuen Demokratie- und Beteiligungsformen.

Vieles in der aktuellen Diskussion zur Krise der Demokratie resultiert aus Erwartungen und Narrativen, die selbst zu überprüfen wären. Die Partizipationsforschung sagt uns, dass die Politik schon immer eine Nebensache für die meisten Wählerinnen und Wähler war. Deshalb sollten wir uns fragen, was wir genau mit diffusen Begriffen wie „Wahlmüdigkeit“ oder „Politikverdrossenheit“ meinen und ob mehr Partizipation und direkte Beteiligung eine angemessene Antwort ist. Richtig ist, dass die zunehmende Schwäche der politischen Parteien ein massives Vermittlungsproblem zwischen Politik und Gesellschaft hat entstehen lassen. Genau an diesem Problem setzt das Instrument der Online-Wahlhilfe an. Als Bürger müssen wir nicht zu allen Themen und Diskussionen eine begründete Meinung entwickeln und dementsprechend ständig politisch aktiv werden. Wir müssen aber in der Lage sein, ein informiertes Urteil in der Auswahl des politischen Personals zu treffen. Parteien haben genau an diesem Punkt für viele Wählerinnen und Wähler die Funktion der Informationshilfe verloren. Online-Wahlhilfen stellen ausgehend davon ein unterstützendes Angebot dar. Dabei war uns im konkreten Fall des Kommunalwahlkompasses auch die Integration von Kandidateninformationen wichtig. Das Kommunalwahlrecht in Hessen macht das personalisierte Wählen möglich. Zudem ist die Personalisierung von Politik traditionell ein wichtiges Moment in der Kommunalpolitik.

Ist das Thema Corona auch enthalten?

Das Thema ist unter anderem für die kommunalen Haushalte von Bedeutung und wird in diesem Sinn im Kommunalwahlkompass auch aufgegriffen. Dazu spielt die Pandemie aber indirekt eine wichtige Rolle. Die geltenden Kontaktbeschränkungen setzten enge Grenzen für traditionelle Formen des Straßen-Wahlkampfs. Damit kommt digitalen Informationsangeboten eine gesteigerte Rolle zu. Der Kommunalwahlkompass leistet hier einen wichtigen Beitrag.

Fragen: Dirk Frank

Im Rahmen eines Gemeinschaftsprojektes der TU Darmstadt, der Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Oldenburg wurde anlässlich der Kommunalwahl in Hessen am 14. März 2021 ein Kommunalwahlkompass konzipiert, der in 34 Gemeinden für die Wahl der Gemeindevertretungen / Stadtverordnetenversammlungen als Informationshilfe angeboten wird. Mithilfe des Kommunalwahlkompasses können interessierte Bürgerinnen und Bürger ihre Positionen zu wichtigen Themen der Kommunalpolitik mit den entsprechenden Positionen der Parteien vergleichen. Sie erhalten als Ergebnis eine Rangliste der ihnen sachpolitisch nahestehenden Parteien und können sich darüber hinaus über die Begründungen der Parteien informieren sowie über die Kandidatinnen und Kandidaten, die von den Parteien zur Wahl aufgestellt sind. Ab dem 15. Februar wird das Angebot verfügbar sein. Das Projekt wird von der Landeszentrale für Politische Bildung Hessen, der Digitalstadt Darmstadt und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unterstützt. Die technische Umsetzung basiert auf einem transparenten Open-Source-Softwareprojekt.

Mehr zum Projekt unter http://www.kommunalwahlkompass.de

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 1/2021 (PDF) des UniReport erschienen.

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