Sturm auf das US-Kapitol: der Amerikanist Simon Wendt mit einer ersten Einschätzung

Herr Prof. Wendt, Sie haben als Amerikanist sicherlich intensiv die Vorfälle auf dem Kapitol verfolgt: Wie besonders sind diese mit Blick auf die amerikanische Geschichte, kann man darin einen wirklichen Putschversuch sehen? Oder handelt es sich ‚nur‘ um den verzweifelten Versuch der Trump-Anhänger, gegen Bidens Wahlsieg und die Zertifizierung seitens des Kongresses gewalttätig zu demonstrieren? 

Prof. Dr. Simon Wendt: Während die Erstürmung des Kapitols nicht als klassischer Putsch interpretiert werden kann, muss man weit in die Geschichte zurückgehen, um einen ähnlichen Vorfall zu finden. Das letzte Mal, dass eine derart große Menge von Menschen das Gebäude besetzte, war im Krieg von 1812, als britische Soldaten Washington, D.C. einnahmen und sowohl das Kapitol als auch das Weiße Haus niederbrannten. Und ja, es kann als verzweifelter Versuch von Trump und seinen Anhängern verstanden werden, die Realität seiner Niederlage zu ignorieren und wenigstens die Machtübergabe zu verzögern. Aber es ist viel mehr als das: die Erstürmung wird von einer großen Anzahl von Amerikanern als Schändung des Symbols der amerikanischen Demokratie verstanden. Darüber hinaus bestätigt Trump damit einmal mehr, dass es ihm weder um die amerikanische Demokratie noch um republikanische Werte geht. Vielmehr geht es ihm nur um seine eigene persönliche Macht, die er mit allen Mitteln erhalten möchte. Nicht nur Trumps Kritiker sind erschüttert und man muss sich fragen, ob Trump und “Trumpism” die politische Polarisierung Amerikas mit einem neuen Gewaltpotential aufgeladen hat, das sich womöglich in den nächsten Jahren in jeder Richtungsweisenden Wahl entladen wird. 

Trump hat mittlerweile eine „geordnete Machtübergabe“ angekündigt. Erwarten Sie für die verbleibenden Tage seiner Präsidentschaft weitere Unruhen und Störungen, oder dürfte das Schlimmste nun wirklich vorbei sein? 

Im Augenblick ist es schwierig vorherzusagen, ob es weitere Unruhen geben wird. Klar ist, dass Trump die Gewalt in Washington, D.C. nicht wirklich verurteilt hat, was seine Anhänger als Aufforderung verstehen könnten, noch mehr Gewalttaten zu begehen. In Washington, D.C. wird die Situation durch die verhängte Ausgangsperre und ein größeres Polizei- bzw. Militäraufgebot aber wohl unter Kontrolle bleiben. Wenn es weitere Unruhen gibt, dann würden diese wahrscheinlich eher in den Hauptstädten der Bundesstaaten stattfinden, die Trump knapp verloren hat. Es ist aber auch denkbar, dass Trumps Anhänger nach der offiziellen Bestätigung von Bidens Sieg durch den Kongress resignieren und sich zurückziehen. 

Viel wird ja darüber spekuliert, was Trump nun nach seiner Amtszeit tun wird. Erwarten Sie, dass er sich weiterhin als politische Kraft bei den Republikanern positionieren wird, oder wird er vielmehr schauen müssen, wie er sich der vermuteten Klagewelle gegen sich entzieht?

Trump hat es geschafft, die Republikaner innerhalb von vier Jahren zur “Trump-Partei” zu machen, deren Mitglieder ohne seine Unterstützung weder Vorwahlen noch Wahlen gewinnen können. Angesichts des Personenkults, den Trump unter seiner großen Anhängerschaft kreiert hat, ist anzunehmen, dass Trump noch für viele Jahre ein wichtiger Königsmacher sein wird. Die vielen Klagen, mit denen sich Trump konfrontiert sieht, werden ihm durchaus zu schaffen machen, aber seine juristischen Verzögerungstaktiken werden vermutlich dafür sorgen, dass Verurteilungen noch lange auf sich warten lassen werden. So oder so gewinnt Trump, da er durch lukrative Bücher, Interviews und Reden seinen Reichtum vergrößern und gleichzeitig für viele Amerikaner ein verehrter Führer bleiben wird.

Biden wird voraussichtlich über eine Mehrheit in Repräsentantenhaus und Senat verfügen – sollte einen das beruhigen? Oder wird die Spaltung in der amerikanischen Gesellschaft dadurch sogar noch befeuert werden?

Tatsächlich ist der überraschende Sieg in den Senatsstichwahlen in Georgia ein wichtiger Erfolg für Biden, der nun zwei Jahre Zeit haben wird, um seine Ziele in der Wirtschaft-, Sozial-, und Außenpolitik mithilfe Demokratischer Mehrheiten in beiden Kammern erreichen zu können. Allerdings könnten Spannungen zwischen verschiedenen Lagern in der Demokratischen Partei durchaus zu Schwierigkeiten bei der Ausrichtung der Gesetzesvorlagen geben, da Biden nicht unbedingt all die ambitionierten Forderungen unterstützen wird, die von der Demokratischen Linken an ihn herangetragen worden sind und die Mehrheiten nur hauchdünn sind. Darüber hinaus glauben ja viele Trump-Anhänger nach wie vor, dass Biden die Wahl “gestohlen” habe. Das wird es noch schwieriger machen zu regieren, da viele Republikaner wahrscheinlich eine Blockade-Politik verfolgen werden, um diese Trump-Anhänger nicht zu vergrätzen. Dennoch bergen die Demokratischen Mehrheiten eine große Chance, erstmals wieder mehr für ärmere Bürgerinnen und Bürger zu tun und das beschädigte transatlantische Verhältnis zu reparieren. Die politische Polarisierung wird allerdings bleiben und sich wahrscheinlich sogar noch verschärfen. 

Fragen: Dirk Frank

Simon Wendt ist Professor für Amerikanistik am Institut für England- & Amerikastudien (IEAS). Weitere Beiträge von Wendt zum Thema finden Sie hier.

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