Über das neueste Werk von Jürgen Habermas [von Matthias Lutz-Bachmann]

Prof. Jürgen Habermas im Forschungskolleg Humanwissenschaften, 2019

Matthias Lutz-Bachmann über das neueste Werk von Jürgen Habermas. In »Auch eine Geschichte der Philosophie« spielen die Begriffe des »nachmetaphysischen Denkens« und das Konzept der »öffentlichen Vernunft « eine zentrale Rolle.

In diesen Tagen ist das neueste Werk von Jürgen Habermas erschienen, der im vergangenen Sommer seinen 90. Geburtstag an der Goethe-Universität gefeiert hat. Habermas hatte bis zu seiner Emeritierung 1994 am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt gelehrt. Der Titel seines Werks „Auch eine Geschichte der Philosophie“ verrät indes zunächst nicht, dass es sich hier möglicherweise um eines der wichtigsten Werke von Habermas handelt.

In einer monumentalen Studie von 1700 Seiten, gedruckt in zwei Bänden, legt Habermas hier das Ergebnis seiner Forschungen aus den letzten beiden Jahrzehnten vor. Seine Studie zielt unter dem Begriff einer „Genealogie“ auf eine Rekonstruktion der langen Geschichte der Herausbildung des „nachmetaphysischen Denkens“ und des Konzepts einer „öffentlichen Vernunft“ unter einer besonderen Berücksichtigung der westlichen, „okzidentalen Aufklärung“ im Sinne Max Webers. Die beiden Begriffe, das „nachmetaphysische Denken“ und das Konzept der „öffentlichen Vernunft“, beschreiben programmatisch das von Habermas selbst vertretene Konzept von Philosophie. Mit ihm schließt Habermas seinerseits an die Geschichte der Philosophie der Aufklärung bei Kant an.

Dessen grundlegende Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen unseres Wissens („Was können wir wissen?“), nach den normativen Grundlagen unseres Handelns („Was sollen wir tun?“) sowie nach der Reichweite und den Gründen für unser Hoffen („Was dürfen wir hoffen?“) bestimmen auch das Konzept der Philosophie bei Habermas. Die genannten drei zentralen Fragen der Philosophie können nach Kant aber auch in die eine Frage zusammengefasst werden: „Was ist der Mensch?“

Genealogie des »nachmetaphysischen Denkens«

Wie Habermas ausführt, sind diese Leitfragen bei Kant auch für seine Philosophie systematisch von grundlegender Bedeutung. In seinem jetzt erschienenen Werk geht es Habermas darum, in die Grundfragen seiner Philosophie, die auf diese Leitfragen Antworten zu geben versuchen, einzuführen, indem er den Weg einer Genealogie des „nachmetaphysischen Denkens“ einschlägt. Damit meint Habermas eine Analyse der langen geistigen, sprachlich und gesellschaftlich situierten Herausbildung der Argumente, die in der „okzidentalen Geschichte“ schließlich zum Programm des „nachmetaphysischen Denkens“ geführt hatten.

Angesichts dieser Fragestellung ist es zunächst überraschend, wenn wir im Zentrum seiner großen Studie vor allem Ausführungen zum Verhältnis von „Glauben und Wissen“ finden. Genau mit diesen beiden Termini sind auch die beiden Teilbände seines Werks überschrieben. Sie bieten eine im Einzelnen höchst differenzierte Rekonstruktion des komplexen Verhältnisses von religiösem Glauben, wissenschaftlicher Rationalität und philosophischer Theorie. So beschäftigt sich der erste Teilband mit der Geschichte dieses Verhältnisses seit den „achsenzeitlichen Revolutionen“ des Wissens in allen uns bekannten Hochkulturen der Alten Welt (im Anschluss an Karl Jaspers) über die Herausbildung von Wissenschaft und Monotheismus in der antiken Philosophie, aber auch in Judentum und im Christentum, die Herausbildung einer gelehrten Theologie in Spätantike und Mittelalter bis zum Beginn der Aufklärung in der Neuzeit.

Daran anschließend thematisiert Habermas im zweiten Teilband die bereits in der Zeit der Universitäten des Mittelalters und der Neuzeit einsetzende Geschichte einer systematischen Unterscheidung, ja schließlich der reformatorischen Trennung von Glauben und Wissen und verfolgt diese Entwicklungsgeschichte von Glauben und Vernunft über die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die Entwicklung der Wissenschaften und der Philosophie des 19. Jahrhunderts bis in zeitgenössische Diskussionen hinein. Damit erhält die Frage nach der Religion, auf die Habermas bereits früher immer wieder, aber eher am Rande seiner Studien und in wichtigen, aber eher verstreuten Bemerkungen, eingegangen ist, mit diesem Werk erkennbar eine neue Bedeutung für sein Denken insgesamt. Daraus folgt auch eine neue Dimension der Bedeutung von Religion für die Bestimmung des Konzepts des „nachmetaphysischen Denkens“ insgesamt.

Seine Studie rekonstruiert nämlich die Geschichte einer Trennung von Glauben und Wissen als einen wechselseitigen Lernprozess und deutet so das „nachmetaphysische Denken“ als ein vernünftiges Resultat gerade dieses Lernprozesses. Das erlaubt es ihm, verglichen auch mit seinen eigenen früheren Aussagen, ein weitaus differenzierteres Bild des Verhältnisses von Glauben und Vernunft in der Geschichte des westlichen Denkens zu zeichnen. In zum Teil minutiösen Studien zu zentralen Autoren der Geschichte der Theologie, deren Texte Habermas unter Einschluss der jeweiligen gesellschaftlichen Handlungskontexte behandelt, demonstriert er an paradigmatischen Beispielen, wie das „nachmetaphysische Denken“ sich im Einzelnen in der Tat produktiv als ein Lernprozess verstehen lässt, der sich seinerseits an religiösen Motiven abarbeitet.

„Nachmetaphysisches Denken” lässt sich durchaus auch als Versuch einer Übersetzung von Aussagen des Glaubens in die Sprache der Vernunft verstehen, und so gewinnt es in diesem Prozess Einsichten auch von den Interpreten des Glaubens und adaptiert von diesen wesentlichen philosophischen Einsichten über die Welt und den Menschen. Während sich nämlich die klassische Philosophie im Anschluss an Platon und Aristoteles über einen langen Zeitraum im Paradigma des „metaphysischen Denkens“ bewegt, sind es für Habermas gerade die Vertreter der biblischen Theologie, deren Einsichten auf systematische Weise dazu beitragen, dass sich neben einer Aufklärung durch die Wissenschaften das „nachmetaphysisches Denken“ als ein zweiter Strom der Aufklärung herausbildet, dem es gelingt, wichtige Einsichten, die die Tradition des Glaubens formuliert hatte, in eine Sprache zu übersetzen, die einer öffentlichen Vernunft heute zugänglich sind.

Aus den Resultaten seiner Genealogie des „nachmetaphysischen Denkens“ folgen systematisch neue Einsichten für ein angemessenes Verhältnis von Glaube und Vernunft. Damit geht Habermas deutlich über seine bisherigen Stellungnahmen hinaus und entwirft ein erweitertes Konzept der Rationalität des Glaubens im Gespräch mit der Vernunft. Seine früheren Aussagen zum Thema bestanden im Kern in der gut begründeten Aufforderung, dass wir in unserer Gesellschaft die weitverbreitete Einstellung des „Säkularismus“ überwinden sollen.

Der „Säkularismus“ stützte sich Habermas zufolge auf eine im 19. Jahrhundert formulierte Annahme, dass moderne Wissenschaft und Religion letztlich miteinander rational unvereinbare Ordnungen des Wissens und der Weltauslegung darstellen, eine Einschätzung, die bekanntlich mit einer Zurückweisung von Religion aus der Sphäre der Öffentlichkeit ins Private und zugleich mit einer grundlegenden Negation der Wahrheitsfähigkeit religiöser Aussagen verbunden war. Die Position des „Säkularismus“ hatte Habermas bereits früher als nicht haltbar, weil wissenschaftlich nicht begründet, und zugleich philosophisch betrachtet als falsch bezeichnet.

Aus seiner Kritik am älteren „Säkularismus“ hatte Habermas in seinen früheren Schriften die Forderung nach einem „postsäkularen“ Verhältnis zu Religion abgeleitet, eine Einstellung, die einerseits für den Raum von Staat und Politik auf einer klaren Trennung von Religion und den Institutionen des säkularen Rechts besteht, die aber andererseits darauf verzichtet, der Religion im Namen von Wissenschaft, von Aufklärung oder von Philosophie die Möglichkeit zu wahrheitsfähigen oder zumindest von wahrheitsanalogen und damit kognitiv bedeutsamen Aussagen über die Welt und den Menschen von vorneherein abzusprechen.

Ablehnung des »szientistischen Naturalismus«

Während Habermas bisher somit das Verhältnis von Religion, Wissenschaft und philosophischer Vernunft als eine „postsäkulare Konstellation“ verstanden hatte und auf eine aus seiner Sicht falsche Zurückweisung der religiösen Seite verzichtet und zu einer „friedlichen Koexistenz“ bei gleichzeitiger kognitiver Enthaltsamkeit bereit war, präsentiert das neue Werk mit seiner großen Genealogie des „nachmetaphysischen Denkens“ eine neue These.

Sie bildet gleichsam den systematischen Hintergrund für die genealogisch aufgezeigten Lernprozesse des „nachmetaphysischen Denkens“ und läuft auf die Einsicht hinaus, dass das „nachmetaphysische“ Denken selbst und damit eine wahrhaft aufgeklärte, „öffentliche Vernunft“ nicht nur aus Einsichten der jüdisch-christlichen Tradition gelernt haben, sondern dass sich das „nachmetaphysische Denken“, wie es uns bei Kant, Hegel, Marx und Habermas begegnet, ohne die Wirksamkeit und die Einsichten der jüdisch-christlichen Tradition, ihrer Texte und ihrer gesellschaftlichen Kontexte gar nicht hätte formulieren und schrittweise ausbilden lassen.

Mit dem genealogischen Blick auf die dem „nachmetaphysischen Denken“ eigenen Bildungsprozesse aber wird der Blick auch auf einen positiven Entstehungszusammenhang von Glauben und Vernunft gelenkt. In dessen Geschichte haben beide, Glauben und Wissen, gelernt, sich selbst und ihre jeweiligen Geltungsansprüche schrittweise immer besser zu verstehen, um am Ende dieses Wegs in der Moderne mit der Einsicht in ihre wechselseitige Lernabhängigkeit auch eine klare Vorstellung von den jeweiligen Grenzen ihrer jeweiligen Zuständigkeit und kognitiven Leistungsfähigkeit zu gewinnen.

Nur diese Einsichten können Habermas zufolge auch dazu beitragen, dass die modernen Wissenschaften, aber auch die Philosophie davor bewahrt werden, dass sie sich selbst in die Widersprüche eines szientistischen Naturalismus verstricken, so wie die Religionen davor bewahrt werden, sich fundamentalistisch zu verfehlen. Für Habermas ist zumindest der seit Hume in der modernen Wissenschaftskultur und der vom Kapitalismus dominierten Zivilisation präsente szientistische Naturalismus nicht nur Ausdruck einer ungenügenden, halbierten Form von Rationalität, sondern auch Ausdruck einer Ideologie, die aus dem Geist einer auch durch Einsichten aus der Tradition belehrten kritischen Theorie des „nachmetaphysischen Denkens“ und der „öffentlichen Vernunft“ kritisiert werden kann und zurückgewiesen werden soll.

Matthias Lutz-Bachmann ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität und Direktor des Forschungskollegs Humanwissenschaften in Bad Homburg.

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 6.19 des UniReport erschienen.

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