Der Soziologe Stephan Lessenich über seine neuen Aufgaben an der Goethe-Universität und am Institut für Sozialforschung

UniReport: Herr Lessenich, Sie werden zum 1. Juli Direktor des Instituts für Sozialforschung und zugleich Professor für »Gesellschaftstheorie und Sozialforschung«. Freuen Sie sich auf Ihren Start hier?

Stephan Lessenich: Ich freue mich sehr. Gerade diese Konstellation ist eine ganz tolle Sache. Das Direktorat des Hauses alleine hätte mich nicht so begeistert. Ich möchte nicht nur im Wissenschaftsmanagement tätig sein, Lehre ist mir wichtig. Und die Denomination der Professur passt zu mir wie die Faust aufs Auge, das ist genau das, was ich mache: Sozialforschung mit gesellschaftstheoretischem Anspruch.

Was bedeutet es Ihnen, ein so traditionsreiches Haus leiten zu können?

Ich werde oft darauf angesprochen: „Oh, die Adorno-Nachfolge!“ – obwohl es seit Adorno ja noch andere Direktoren gab. Das bewegt mich aber nicht wirklich. Auch in München wurde ich immer mal als „Beck-Nachfolger“ adressiert. Das klingt so, als würde einer die Standards setzen, und die Nachfolger müssen das dann weiterführen.

Was fällt Ihnen zur Goethe-Universität ein?

Da fällt mir natürlich Goethe ein, dann Stiftungsuniversität, Bürger-Universität, Bürgergesellschaft. Zur Soziologie hier fällt mir gleich ein: Kritische Theorie, Studentenbewegung, ein kritisches, emanzipatorisches Sozialmilieu, und gerade diese Mischung aus Bürger-Universität, ja Gutbürgerlichem, und so einem Bewegungsimpuls, linken Sozialambitionen – dieses Spannungsfeld habe ich im Kopf.

Und zur Stadt Frankfurt?

Ich bin sehr gespannt auf die Stadt. Ich kann jetzt nicht sagen, dass das meine Traumstadt wäre. Der Bruch zwischen Bankenviertel und dem Rest, der ist mir erstmal nicht ganz geheuer. Aber ich freue mich darauf, das zu erkunden und zu erleben.

Ihr Vater war Banker.

Ja, mein Vater war Banker und sein Vater war auch Banker. Mein Vater hat immer gehofft, dass ich in seine Fußstapfen trete. Noch während meines Studiums hat er auf einen Quereinstieg gehofft und auch nach der Promotion. Aber diese Welt war mir immer fremd.

Hat sich Ihr Vater irgendwann damit abgefunden, dass Sie Soziologe geworden sind?

Eigentlich nie. Er hat immer damit gefremdelt. Ich glaube aber, er war stolz, als ich promoviert wurde und später eine Professur bekam, klar.

Warum sind Sie Soziologe geworden?

Ich war immer politisch interessiert. Eigentlich wollte ich Architektur studieren, habe dann aber ein Politikstudium angefangen mit Soziologie im Nebenfach. Die Soziologie fand ich dann interessanter, näher am gesellschaftlichen Leben. Mir gefiel, dass man Dinge untersucht, die jeder kennt, und dann erfährt, wie man sich einen anderen Reim darauf macht, als es das Alltagsverständnis nahelegt.

Wann wussten Sie, dass Sie Wissenschaftler werden wollen?

Nach dem Studium wollte ich eigentlich was anderes machen und hatte schon einen Ausbildungsplatz als Erzieher. Dann wurde mein Sohn geboren. Meine Partnerin studierte Medizin und musste rund um die Uhr lernen. Da haben wir vereinbart, dass ich versuche, ein Promotionsstipendium zu kriegen. Und jetzt habe ich eine kleine Tochter und denke mir, ich hätte doch Erzieher werden sollen.

Das Einkommen ist aber schon ein anderes.

Jaja, das ist ja das Fatale. Das Ökonomische ist tatsächlich eher abschreckend bei diesem Beruf.

Den Ruf nach Frankfurt haben Sie bereits 2019 bekommen. Warum hat es dann so lange gedauert?

Das lag nicht an mir, sondern an Corona und daran, dass die Rahmenbedingungen so komplex
waren.

Wie kam es zu dieser neuen Konstruktion, der Kooperationsprofessur?

Der Wissenschaftsrat hat das Haus 2015 evaluiert und in seinem Gutachten eine engere Anbindung an die Universität, aber auch mehr Autonomie durch eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung empfohlen. Beides hat sich nunmehr realisieren lassen.

Das Institut gilt als der Ort der Kritischen Theorie. Welchen Stellenwert hat diese Tradition für Sie?

Ich sehe mich in der Tradition dieses Denkens. Die Kritische Theorie betrachtet die spezifische Verfasstheit der kapitalistischen Gesellschaften. Es gibt eine bestimmte Form der Organisation des Wirtschaftens, die diese Gesellschaft prägt und in sämtliche Lebensbereiche ausstrahlt. Es geht ihr um die Strukturprobleme dieser Gesellschaften, aber auch – das ist ganz wichtig – um die verschütteten Entwicklungsmöglichkeiten, die eingelagerten Alternativen, die nicht realisiert werden, weil die Gesellschaft so verfasst ist, wie sie verfasst ist.

Die Kritische Theorie beansprucht, die Gesellschaft zu verändern.

Der normative Anspruch der Theorie ist, dass alle Menschen gleichermaßen frei leben können. Sie will verstehen, warum die Gesellschaft verhindert, dass diesem Anspruch Genüge getan wird – und was die Folgen sind. Letztlich geht es darum, dass die Gesellschaft auch anders sein könnte, das heißt, wir könnten Gesellschaft auch anders einrichten.

Welche Rolle spielt das Institut für Sozialforschung dabei?

Das IfS steht für eine Gesellschaftstheorie, die nicht nur um der Theorie willen betrieben wird, sondern in die Gesellschaft hineinwirken will. Dafür ist die Verbindung in das politische Feld bedeutsam.

Die Wissenschaftsministerin hat sich klar zum IfS bekannt und für eine bessere Ausstattung gesorgt. Fühlen Sie sich jetzt abhängig von der Politik?

Selbstverständlich besteht eine finanzielle Abhängigkeit vom Landeshaushalt. Aber ich spüre keine inhaltliche Abhängigkeit, sondern ich sehe das als Vertrauensbeweis, dass das Land diesem Institut eine beträchtliche Relevanz zuschreibt in diesen schwierigen Zeiten.

Was wollen Sie erforschen?

Wir werden Schwerpunkte setzen. In Anlehnung an die Tradition des Hauses werden wir der „Dialektik der Teilhabe“ nachgehen. Es gibt in der Moderne, in der westlichen Industriegesellschaft, keine einseitige Ausweitung von Rechten, Möglichkeiten und Optionen, sondern die Ausweitung von Möglichkeiten an einer Stelle ist oft mit Einschränkungen von Möglichkeiten an anderer Stelle verbunden. Ein anderer Schwerpunkt wird die Frage der stofflichen Reproduktion der Gesellschaft sein: Unsere Produktion von materiellen Möglichkeiten und Lebenschancen geht zulasten der Möglichkeiten von Reproduktion von biologischem Leben. Das ist empirisch so, hat sich historisch so etabliert. Aber ließe sich das nicht auch anders denken?

Eines Ihrer Bücher heißt »Deutschland – gespaltene Gesellschaft«. Wie könnte man dieser Spaltung gegensteuern?

Gesellschaft ist immer gespalten, es gibt nicht die homogene, einheitliche Gesellschaft, das wäre keine demokratische, plurale Gesellschaft. Aber die Wahrnehmbarkeit von Spaltung hat sich geändert – über soziale Medien, aber auch wegen neuer Themen wie Migration oder zuletzt der Pandemie. Kritische Gesellschaftswissenschaft sollte solche Spaltungen analysieren und Alternativen dazu formulieren. Nicht im Sinne einer Vereinigung oder einer Homogenisierung, sondern im Sinne der Lebbarkeit von Differenz.

Wird die Spaltung auch dadurch befördert, dass es keinen Informationskanon mehr gibt?

Ich weiß nicht, ob es früher mehr Meinungskonsens gab. Viele Positionen waren einfach nicht wahrnehmbar. Mit feministischen Bewegungen, die bestimmte Positionen in die öffentliche Debatte einbringen, sieht es plötzlich so aus, als hätten wir einen Geschlechterkampf; den gab es aber im Privaten immer schon.

Aber die unterschiedlichen Gruppen sollten mehr miteinander sprechen?

Das ist ein hehrer Anspruch. Wer kann von sich behaupten, dass er nicht nur in der eigenen Gruppe mit anderen spricht? Wir leben alle ganz stark im eigenen sozialen Milieu – im Wohnviertel, im Freundeskreis, in unseren Paarbeziehungen. Nicht nur bei Shitstorms und in Echokammern gibt es kein Außen; die bildungsbürgerlichen Milieus kommunizieren auch nicht mit ihrem Außen.

Das Miteinandersprechen funktioniert auch an unserer Hochschule oft nicht. Referenten werden ausgeladen, weil ihre Standpunkte problematisch erscheinen. Was bedeutet diese »Cancel Culture« für die Uni?

Cancel Culture ist meines Erachtens keine korrekte Beschreibung des Geschehens. Es gibt keine Kultur in dem Sinne, dass regelmäßig durch Intervention von bestimmten Gruppen Meinungsäußerungen verhindert würden. Es gibt solche Ereignisse, aber man muss diese auch als Einzelfälle beurteilen. Ich finde jedenfalls, dass Faschisten nicht an Universitäten auftreten müssen – selbst wenn man meint, deren Auftritte in einen wissenschaftlichen Diskurs einbetten zu können.

Wen meinen Sie damit?

In der jüngsten Debatte wurde ein Vertreter des „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“ gefragt, ob auch Björn Höcke an Universitäten reden dürfen müsse, und da hieß es: Ja, man müsse mit allen sprechen. Das finde ich nicht.

Wie erklären Sie sich die leicht entflammbare Stimmung?

Viele, die bisher den Eindruck hatten, sie könnten sprechen, ohne dass ihnen widersprochen wird, merken jetzt, dass es zunehmend doch möglich wird, zu widersprechen, und haben offenbar ein Problem damit. So sehe ich auch die Diskussion um Herrn Thierse und die Identitätspolitik. Lange Zeit waren viele Positionen einfach nicht öffentlich repräsentiert. Das trifft womöglich auch auf „Querdenker“ zu. Das gilt aber zumal für die, die jetzt in der Kritik stehen, weil sie angeblich nur identitätspolitisch argumentieren würden, etwa Schwule, Lesben und Trans*.

Viele Studierende fordern mehr Lehrangebote in Kritischer Theorie. Werden Sie das bedienen können?

Das Interesse an Kritischer Theorie nimmt zu, auch in München gab es von studentischer Seite eine wachsende Nachfrage. Diese zu bedienen und sie dadurch auch weiter zu fördern – Angebot schafft sich ja auch eine Nachfrage –, da sehe ich das Institut durchaus in der Pflicht.

Früher gab es schon durch die räumliche Nähe einen stärkeren Austausch mit der Uni. Wie könnte man das wiederbeleben?

Wir müssen das Haus zu einem Attraktionspunkt machen. Natürlich ist die räumliche Distanz zum Campus ungünstig. Aber diese Distanz wird überbrückt werden in dem Maße, wie das Haus attraktiv ist durch das, was es anbietet, was es an Wissen produziert und an Austausch ermöglicht. Die Studierenden werden registrieren, dass hier was passiert. Und wenn es ihnen interessant erscheint, dann radeln sie sicher die zehn Minuten hier rüber.

Fragen: Anke Sauter

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 3/2021 (PDF) des UniReport erschienen.

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