Als Julia Sammet das Physik-Lernzentrum gründet, ist sie selbst Studentin. Inzwischen leitet die Doktorandin das Zentrum mit ihrem Team seit acht Jahren und verantwortet auch die Vorkurse für das naturwissenschaftliche Studium auf dem Riedberg.
Manche guten Dinge entstehen nebenbei, quasi absichtslos. Aber sie bringen etwas ins Rollen. Im Fall von Julia Sammet, die sich im Bachelor-Studium in der Fachschaft Physik engagiert, ist dies im Jahr 2013 eine kurze Nachricht in den Facebook-Gruppen ihrer Kommilitonen. „Hey Leute, ich bin morgen in Raum 02.428 und beantworte Fragen zu Übungen zur theoretischen Physik. Wer will, kann gern kommen.“ Am folgenden Tag finden sich zwei Interessierte ein, in der nächsten Woche sind es ein paar mehr. Nach einigen Wochen hat sich herumgesprochen, dass es sich lohnt, dem Raum einen Besuch abzustatten: Weil dort unter Anleitung Übungsaufgaben bearbeitet werden, die man allein kaum zu schaffen glaubt. Weil Fragen zu allen Vorlesungen gestellt werden können. Und mehr noch: Weil man sich gemeinsam beim Verstehen hilft. Damals studiert Julia Sammet im dritten Semester Physik und legt – ohne es zu merken – den Grundstein zum Physik-Lernzentrum.
Überspringen wir die Jahre seit 2013, treffen wir auf ein Zentrum, das mit beachtlichen Zahlen aufwarten kann. Julia Sammet, die inzwischen am Fachbereich promoviert, hat Buch geführt: Aus anfänglich einem Übungstag sind fünf Tage pro Woche geworden, an denen im Präsenzarbeitsraum vier Stunden täglich bis zu vierzig Studierende von Peer-Tutoren betreut werden. Darunter sind Studierende der Physik ebenso wie der Geowissenschaften, Geografie, Biochemie, Chemie, Pharmazie und Biowissenschaften. 1392 Besuche wurden während des Wintersemesters 2018/19 im Lernzentrum registriert, im onlinegeprägten Wintersemester 2020/21 waren es 939 Logins. Zur anfänglichen ehrenamtlichen Beratung sind nach einem Jahr Mittel des Fachbereichs für Hiwis hinzugekommen. Als 2015 auf dem Campus Riedberg das Mathematikzentrum gegründet und dieses Lernzentrum bald vom Bund-Länder-Programm „Starker Start ins Studium“ gefördert wird, setzt sich dessen Leiter Hartwig Bosse dafür ein, dass auch das Physik-Lernzentrum eine finanzstärkere Förderung erhält: Auf gemeinsame Initiative hin bewirbt sich der Fachbereich Physik 2017 erfolgreich auf ein Innovationsprojekt im „Starken Start ins Studium“ und sichert damit die langfristige Finanzierung des Physik-Lernzentrums.
»Die Besten fördern kann jeder.«
Das Lernzentrum, so scheinen es die Zahlen zu bestätigen, ist vom Campus Riedberg also nicht mehr wegzudenken. Doch das war nicht immer so. Sollte nicht besser, so war anfangs zu hören, die bereits existierende Tutorenbetreuung ausgebaut werden? Fördert ein Lernzentrum vielleicht eher die Wackelkandidaten, die das Studium ohnehin bald aufgeben? „Selbst wenn es so wäre“, kontert Professor Reinhard Dörner, Studiendekan des Fachbereichs Physik, „wäre das doch sehr positiv. Die Besten fördern kann jeder.“ Für den Fachbereich, soviel steht für Dörner fest, füllt das niederschwellige Angebot des Lernzentrums eine Lücke. Und das hat der Fachbereich inzwischen sogar amtlich: Externe Gutachter haben bei einer Beurteilung des Physikstudiengangs der Goethe-Universität die Qualität des Lernzentrums lobend erwähnt. Für Dörner leistet das Lernzentrum aber noch etwas Wesentliches für das Physikstudium. „Auch wenn man am Ende allein rechnen muss: Physikalische Probleme werden im Diskurs erarbeitet. Und im Lernzentrum lernt man das.“
Auch für Julia Sammet ergänzen sich die Angebote von obligatorischen Tutorien und freiwilligem Lernzentrum auf sinnvolle Weise – als ehemalige Fachbereichstutorin weiß sie, wovon sie spricht. Während die Tutorien einer Veranstaltung zugeordnet Lösungen zu den wöchentlichen Übungsaufgaben besprechen, werden die Studierenden im Lernzentrum beim Lösen dieser Aufgaben begleitet: Wo hakt es? Hat jemand eine Idee? Im Lernzentrum können zudem die Themen für kreatives Grübeln frei gewählt werden. Dabei, das ist Julia Sammet besonders wichtig, sei keine Frage zu dumm, um nicht gestellt zu werden. Die Hilfskräfte des Lernzentrums müssen deshalb mit ihrem Wissen breit aufgestellt sein und nicht nur den aktuellen Lernstoff und Skripte einer einzigen Vorlesung kennen. Fünf Hilfskräfte beschäftigt das Lernzentrum heute. Aus den Bewerbungen kann Julia Sammet sich die Jahrgangsbesten aussuchen – und diese prüft sie dann auf ihre Fähigkeit, geduldig, kreativ und – besonders wichtig – freundlich zu erklären. Im Vorstellungsgespräch übernimmt die Doktorandin die Rolle der fragenden Studentin, gemäß ihrer Devise: Dumme Fragen gibt es nicht. Die ausgewählten Hilfskräfte bleiben dann meist jahrelang. Wie Tutor Daniel Jampolski, der heute im achten Fachsemester studiert und das Lernzentrum vom zweiten Semester an „fast jeden Tag“ besucht hat. „Man spart sich damit eine Menge Zeit“, erklärt er, denn „mit guten Denkanstößen“ schaffe man die Übungsaufgaben natürlich schneller. Außerdem habe er im Lernzentrum immer Kommilitonen getroffen – befreundet sind sie bis heute.
Auch wenn ältere Semester seltener im „Learni“ anzutreffen sind, manchmal verschlägt es sogar Doktoranden dorthin, vor allem aus der theoretischen Physik. Der freiwillige Input der Doktoranden bringt die Studienanfänger in Kontakt mit spannenden Fragen des Fachs und gibt ihnen eine Perspektive für ihr Studium. Die Doktoranden wiederum bringt das Erklären mitunter auf neue Gedanken. „Wenn ich nicht in einfachen Worten erklären kann, woran ich arbeite, merke ich, dass ich es selbst noch nicht richtig verstanden habe.“ So hat Julia Sammet erfahren: Forschung und Lehre bereichern sich wechselseitig.
Das Lernen lernen
Wer sich das Lernzentrum also als simple Hausaufgabenhilfe vorstellt, denkt zu kurz. Das Team versteht es als Zentrum, bei dem das Lernen gelernt werden soll. Oder noch größer gedacht: Bei dem gelernt werden soll, wie Forschen geht. Dabei hat Julia Sammet sich an der Frage orientiert: Was würde mir selbst helfen zu verstehen? Von ihrer pädagogischen Erfahrung profitieren inzwischen auch die Teilnehmenden der naturwissenschaftlichen Vorkurse auf dem Riedberg, die Julia Sammet mit ihrem Team ebenfalls leitet: Pro Semester werden um die 280 Abiturienten vor dem Start an der Goethe-Uni mit physikalischem Basiswissen vertraut gemacht.
Hocheffektiv und erfolgreich sind Lernangebote des Physik-Lernzentrums nicht zuletzt auch, weil hinter dem Konzept viel Arbeit steckt. Neben Lehrvideos gibt es Übungen angepasst an alle Teilnehmenden – mit Physikvorkenntnissen und ohne. Von Anfang an hat Sammet gemeinsam mit dem EdTech-Start-up StudyCore auch eine spezielle Learn-Analytics-Plattform entwickelt, mit der die Studierenden unmittelbares Feedback zu ihrem Lernstatus erhalten. Und sie scheut keine Mühe und Versuchsaufstellung, um auch durch praktische Experimente Verständnisprozesse in Gang zu bringen. Um etwa den Unterschied zwischen inelastischen und elastischen Stößen zu erklären, hat sie mit ihrem Team Züge aufeinanderprallen lassen und bei Versuchen mit normaler Knete und Springknete gearbeitet. Dabei sollte ein Student Springknete im Wurf an eine Wand heften. Als diese wiederholt den Kursteilnehmenden um die Ohren flog, hatten nicht nur alle etwas verstanden, sondern auch eine Menge Spaß.
Es versteht sich fast schon von selbst, dass auch der Ausbruch der Pandemie das Lernzentrum nur für kürzeste Zeit ausgebremst hat – Professoren halfen mit dem nötigen Equipment aus, damit der Vorkurs rechtzeitig online starten konnte. Ob Vorkurs oder Lernzentrum – die Studierenden spüren die Impulse an ihren eigenen Erfolgen. Und setzen sich deshalb zunehmend dafür ein, das Zentrum und seine Leiterin bekannt zu machen – indem sie etwa erfolgreich ihr Vorschlagsrecht für Preise nutzten. 2019 wurde die damals 26-Jährige mit dem eigens für sie eingerichteten Sonderpreis „Auszeichnung für besonderes Engagement von Studierenden im Bereich der Lehre“ prämiert. 2020 erhielt sie den 1. Preis des „1822-Universitätspreis für exzellente Lehre“ der Goethe-Universität und der Stiftung der Frankfurter Sparkasse, der damit erstmals an den Fachbereich Physik ging. 2021 erhielt sie vom Institut für Theoretische Physik der Goethe-Universität den „Niko-Claus-Preis für gute Lehre“ der Walter Greiner Gesellschaft zur Förderung der physikalischen Grundlagenforschung e.V.
Die Preise haben etwas verändert. Nicht nur das Lernzentrum wird geschätzt, es fällt auch ein Fokus auf die Person, ohne die es das Zentrum gar nicht gäbe. Julia Sammet will nun ihre Promotion abschließen – und kann sich gut vorstellen, dem Lernzentrum verbunden zu bleiben. Weil man dort, sagt sie, forschen und lehren so sinnvoll verbinden kann.
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 1/2022 (PDF) des UniReport erschienen.