Auf der Suche nach einer verlorenen Kindheit

Ihr Vater hat als jüdisches Kind den Holocaust in Deutschland nur knapp überlebt: Die Israelin Hamutal Ben-Arieh sucht bei einem Besuch in Deutschland nach Spuren ihrer Familie im Raum Frankfurt.

Hamutal Ben-Arieh (Mitte) mit ihrem Mann Asher Ben-Arieh und Sabine Andresen.

Einen ganzen Ordner voller Dokumente, Urkunden und Fotos hat Hamutal Ben-Arieh von Jerusalem nach Frankfurt mitgebracht. Doch der Eindruck eines vollständigen Familienalbums trügt: Es gibt viele Lücken, Leerstellen und Ungereimtheiten in der Geschichte ihres Vaters Rudolf (später Ruben) Stern. Hamutal, eine Israelin, ist in gewisser Weise eine Geschichtenerzählerin: Aber ihre Erzählungen sind wahrscheinlich das Schmerzlichste, was man erzählen kann. Denn es sind Geschichten aus dem Holocaust, die sie bei ihrer Arbeit als pädagogische Führerin in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem den Besuchern vermittelt. Ende April begleitet Hamutal ihren Mann, den Erziehungswissenschaftler Prof. Asher Ben-Arieh von der Hebräischen Universität Jerusalem, auf dessen Dienstreise nach Frankfurt. Gemeinsam mit Prof. Sabine Andresen gibt er an der Goethe-Universität ein Masterseminar zum Thema Kindesmissbrauch mit jeweils zwölf Studierenden aus Frankfurt und Jerusalem. Gemeinsam lernen, diskutieren und neue Ideen entwickeln – nichts Besonderes für die jungen Leute aus Deutschland und Israel von heute. Hamutal genießt die Gesellschaft der jungen Leute, beobachtet gerne, wie selbstverständlich sie mit ihren Kommilitonen aus den beiden fernen Ländern umgehen. „Ich glaube an das Gute im Menschen“, betont sie im Gespräch. Und das, obwohl sie unzählige Geschichten über die Schrecken des Holocausts gehört, recherchiert und erzählt hat.

Aufgewachsen in einem Kinderheim

Die Familie ihres Vaters lässt sich bis ins 18. Jahrhundert im Frankfurter Raum zurückverfolgen. Näheres konnte Hamutal noch nicht in Erfahrung bringen, und sie hat bereits beim Jüdischen Museum Frankfurt nachgefragt. „Ich vermute, dass die Familie nicht in einer bestimmten jüdischen Gemeinde registriert war“, sagt sie. Hamutal möchte, dass die Geschichte mit ihrer Großmutter Hedwig Stern beginnt, die 1910 im hessischen Hochstadt als jüngstes Kind von Markus und Sophie Stern geboren wird. Hedwigs Mutter stirbt bei der Geburt eines weiteren Kindes, und ihr Vater muss fortan die insgesamt vier Kinder allein großziehen. Ein Zeitsprung in das Jahr 1933: Hedwig bekommt ein Kind, Hamutals Tante Paula wird geboren, allerdings unter schwierigen Bedingungen: Sie wird in das Kinderheim von Bertha Pappenheim in Neu-Isenburg gegeben. Dort kümmert sich die berühmte jüdische Sozialarbeiterin und Sozialarbeitstheoretikerin um Kinder alleinstehender und schlecht versorgter jüdischer Mütter.

Nach der Geburt ihrer Tochter geht Hedwig vermutlich nach Wiesbaden zu Rudolf Leithem, einem kommunistischen Aktivisten, der inzwischen in einem Arbeitslager interniert ist. Der genaue Familienstand, einschließlich der Arbeit, die Hedwig in dieser Zeit verrichtet, ist unbekannt. Im Jahr 1935 wird ihr Kind (Hedwigs zweites Kind) Rudolf geboren. 1937 zieht Hedwig zusammen mit Rudolf in das Kinderheim in Neu-Isenburg. Hedwig nimmt dort eine Stelle an, damit sie bei ihren Kindern sein kann. Die politische Lage in Deutschland verschlechtert sich: 1938, während der sogenannten „Reichskristallnacht“, setzen Bewohner von Neu-Isenburg einige Gebäude des Kinderheims in Brand. Hedwig beschließt, mit den Kindern nach Straßburg zu fliehen. Dort gelingt es ihr, Paula und Rudolf in einem Kloster unterzubringen, das als Waisenhaus für christliche Kinder fungiert. Sie selbst geht in die Niederlande, wo ein Bruder von ihr mit seiner Familie lebt. Sie zieht weiter nach Amsterdam und lernt dort jüdische Flüchtlinge aus Deutschland kennen, darunter auch Heinz, den sie dann 1942 heiratet. Kurze Zeit später werden beide von den deutschen Besatzern der Niederlande nach Auschwitz deportiert. Von dort aus werden sie getrennt auf den „Todesmarsch“ geschickt: Heinz nach Dachau, Hedwig nach Malchow/Ravensbrück. Beide sterben schwer geschwächt wenige Tage vor der Befreiung der Lager durch die Rote Armee.

Vom französischen Kloster in den Kibbuz

Hedwig Stern. Foto: privat

Paula und Rudolf werden nach der Flucht ihrer Mutter im Kloster getrennt. Eine schmerzhafte und gefährliche Zeit wartet auf sie. Die deutschen Besatzer durchsuchen das Waisenhaus regelmäßig nach jüdischen Kindern. Die Kinder werden dann von Dorfbewohnern an verschiedenen Orten versteckt. Aber auch im Kloster sind Schläge und Vernachlässigung an der Tagesordnung: Als deutsche Juden sind Rudolf und Paula der Willkür der Nonnen und Mönche doppelt ausgesetzt. Paula gelingt 1944 auf einer gefährlichen Flucht über die Pyrenäen und Portugal die Flucht nach Israel, wo sie in einem Internat untergebracht wird. Ihr Bruder Rudolf wird erst 1947 zusammen mit anderen Waisenkindern in einem verlassenen Schloss in Toulouse gefunden. Sie wollen das jüdische Kind nach Palästina bringen, doch der Junge wehrt sich vehement: Er fühlt sich als Christ; von diesem fernen Land, in dem die Orangen blühen sollen, hat er noch nie gehört. Rudolf entkommt den wohlmeinenden jüdischen Helfern mehrmals, doch schließlich kommt er in Haifa an und wird in ein Waisenhaus gebracht. Sie ändern seinen Namen von Rudolf in Ruben und nehmen ihm sein geliebtes Kreuz weg. Mit 18 Jahren dient Ruben in der Armee, geht nach seinem Militärdienst in einen Kibbuz, wo er seine zukünftige Frau kennenlernt. Er wird eine Familie mit vier Töchtern gründen, aber seine Vergangenheit wird er lange für sich behalten. „Mein Vater nahm mich zu Weihnachten mit nach Nazareth, was für ein jüdisches Mädchen eine exotische Welt mit fremden Predigten, Liedern und Gerüchen war. Ich spürte, dass mein Vater in dieser christlichen, vertrauten Welt sein Herz öffnen konnte. Ich fragte ihn, was aus seiner Familie geworden sei, ich hatte nur Großeltern mütterlicherseits. Erst allmählich war er in der Lage, darüber zu sprechen. Er sagte immer, der Holocaust sei nichts für Kinderohren“, sagt Hamutal. „Im Prinzip hatte er recht, aber manche Geschichten müssen einfach erzählt werden. Damit sie nicht in Vergessenheit geraten.“ Als sie später in Yad Vashem zu arbeiten beginnt, ist ihr Vater zunächst entsetzt. „Aber irgendwann war er auch stolz auf mich“, lächelt Hamutal.

Ihr Vater ist vor fünf Jahren gestorben. Aber Hamutals Tante Paula lebt noch, sie ist kürzlich 90 Jahre alt geworden. „Früher wollte sie nichts von der Geschichte wissen, im Gegensatz zu meinem Vater. Aber Paula denkt immer noch an ihre Mutter, die sie so früh verloren hat. Und es fehlt ihr noch so viel Wissen darüber, woher sie kommt, auch wer ihr Vater war. Da sie schon so alt ist, will ich keine Zeit verlieren und jede Chance nutzen, etwas mehr herauszufinden. Vielleicht gibt es im Frankfurter Raum Leute, die sich an die Familie Stern, Hedwig, Paula und Rudolf erinnern können“, hofft Hamutal. Damit sie eines Tages die Geschichte der Familie ihres Vaters ein wenig vollständiger erzählen kann.

Wer mit Hamutal Ben-Arieh Kontakt aufnehmen möchte, kann dies unter folgender Adresse tun: hamutalba@gmail.com

Relevante Artikel

Ausgezeichnete Ideen für Nachhaltigkeit

Goethe-Unibator prämierte Startups Am 24. April veranstaltete das von Innovectis gemanagte Gründungszentrum, der Goethe-Unibator, zum zweiten Mal auf dem Campus

Auf Blog und Teller

Das Jubiläum »100 Jahre Studierendenwerk« wird noch bis in den Winter hinein mit vielen Aktionen gefeiert Was haben beispielsweise Olympiasieger,

Uni-Sammlungen global denken

Die Sammlungen der Goethe-Universität erproben Wege, Sammlungsgut aus Afrika global zugänglicher zu machen. Die Diskussion um den Umgang mit wissenschaftlichen

Öffentliche Veranstaltungen

You cannot copy content of this page