Antisemitismus 2023: Zur Situation von Bildungseinrichtungen – ein Essay von Sabine Andresen und Wolfgang Meseth
Das Phänomen ist nicht neu: Wenn etwas richtig schiefläuft und große politische Sorgen auslöst, dann ertönt der Ruf nach der Pädagogik. Politischer Bildung, der Vermittlung historischen Wissens und der pädagogischen Verständigung über Menschenrechte und Humanität wird gerade in Krisen eine besondere Kraft zugeschrieben. Wir beobachten dies auch derzeit, denn das Entsetzen über das Massaker durch Mitglieder der Hamas im Süden Israels, die Bombardierungen Israels, der Krieg in Gaza und die vielen Opfer verlangen nach Antworten, wie dies einzuordnen ist und wie darauf reagiert werden kann. Hier in Deutschland löst vor allem der in ganz unterschiedlichen Milieus und politischen Arenen sichtbare Antisemitismus große Erschütterungen insbesondere bei jüdischen Mitmenschen aus. Offenbar, so lautet manche Diagnose, haben Bildung und Aufklärung nicht die Wirkung erzielt, die ihnen zugeschrieben wurde.
Das heißt, Erziehung in Familie oder Kindertagesstätten, aber vor allem Bildung in Schulen, in der offenen Kinder- und Jugendarbeit oder der Universität werden als diejenigen Instrumente angesehen, durch die Antisemitismus ebenso wie alle anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, wenn nicht vollständig beseitigt, so doch minimiert werden können. Und dieser Diskurs rekurriert in Deutschland insbesondere auch auf die Rundfunkvorträge und Schriften Theodor W. Adornos, denn er hatte seiner Hoffnung auf eine fortschrittliche und demokratische Pädagogik, einer „Erziehung nach Auschwitz“ Ausdruck verliehen.
Doch Schulen ebenso wie Universitäten, Jugendzentren nicht anders als Sportvereine sind stets auch Orte, an denen sich Ausgrenzung, Abwertung, einseitige und polarisierende Konflikte, antisemitische oder antimuslimische Ressentiments ausbreiten. Internationale Konflikte, Kriege, Spannungen im Inland und all die damit einhergehenden Debatten, Eindrücke und medialen Sichtbarkeiten bleiben nicht draußen vor der Tür. Sie begleiten Schüler:innen in den Unterricht, Athlet:innen ins Training oder Student:innen ins Seminar. Und nicht nur wir selbst als Lehrende an der Universität beobachten, dass die Thematisierung des 7. Oktober 2023, das Existenzrecht Israels, die Situation der Palästinenser:innen, die Interessen anderer Länder in der Region und nicht zuletzt die Haltung in Deutschland angesichts antisemitischer Äußerungen, Androhungen und konkreter Gewalttaten schwierig ist und vielleicht auch hilflos macht. Viele Lehrpersonen erkundigen sich derzeit nach Vermittlungsmöglichkeiten zum Nahostkonflikt und suchen Beratung für den Umgang mit diversen Jugendgruppen. Darüber informiert beispielsweise der Newsletter der Bildungsstätte Anne Frank vom 7. November 2023.
Eine Herausforderung für die in Kita, Schule oder Universität tätigen Personen besteht dann darin, für das Gehörte, Gedachte, nicht immer Ausgesprochene, für das Wissen und Halb-Wissen, die Komplexität, die allen Konflikten meist innewohnt, sensibilisiert zu sein und über gute Entscheidungsgrundlagen zu verfügen. Entscheidungen darüber, wann beispielsweise eine Lehrkraft moderierend, informierend in eine Kommunikation und Interaktion eingreift oder wann und wie sie aktiv den Raum eröffnet für eine Diskussion mit der Gruppe – Schüler:innen oder Studierende – über Antisemitismus in Deutschland, über die Rolle der israelischen Regierung oder über die Adressierung von Muslim:innen, sich vom Terror der Hamas zu distanzieren. Es gibt theoretisch sehr viele Anlässe für ein Gespräch, für einen Austausch, aber auch aus Angst, selbst nicht genug Wissen zur Verfügung zu haben, werden diese Anlässe nicht genutzt. Allein die Vorstellung über Antisemitismus in einer nicht klar einzuschätzenden Gruppe junger Menschen zu sprechen, kann bereits Verunsicherung erzeugen.
Daraus resultieren Fragen, die für Erziehungs- und Bildungskontexte relevant sind:
Wann legt man seinen Unterrichts- oder Seminarplan beiseite, um Raum zu geben für Trauer, für die Artikulation von Ängsten, für das Gespräch über den 7. Oktober 2023 und über den aktuellen Krieg in Gaza, über die Geschichte der Region und ihre Konflikte, aber vor allem auch über die Angst jüdischer Menschen in Deutschland, in Frankfurt oder Berlin, vor antisemitischen Übergriffen, vor Hass und Gewalt, vor Schweigen und Wegsehen? Wann werden Erfahrungen von Studierenden besprochen, die antisemitischen Übergriffen ausgesetzt sind und an Schulen und Hochschulen keine Solidarität wahrnehmen? Wann werden die Studierenden gehört, die antimuslimische Übergriffe erfahren haben? Wann gilt es, zuzuhören und unterschiedlichen Perspektiven Raum zu geben, wann fachlich über den Nahost-Konflikt aufzuklären, wann kommunikativ Grenzen zu setzen, wenn politische Statements in den Schulunterricht, den Hörsaal, die Kindertagesstätten oder den Jugendclub hineingetragen werden, die Antisemitismus und weitere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit schüren?
»Die Erziehung ist konservativ. Ihre Organisation ist es insbesondere. Niemals ist sie die Vorbereitung für eine Strukturveränderung der Gesellschaft gewesen. Immer – ganz ausnahmslos – war sie erst die Folge der vollzogenen.«
Siegfried Bernfeld, 1925
Auf der Suche nach Antworten fühlen sich Fachkräfte oft allein, dabei sind die Ansprüche an eine für Migrationsgesellschaften weiterentwickelte „Erziehung nach Auschwitz“ höchst anspruchsvoll. Niemand sollte damit allein bleiben. Neben dem kollegialen Austausch ist auch die Rolle von Leitungskräften zentral, den Verunsicherungen entgegenzuwirken. Denn während in einem Moment noch reflexiv über ethische Fragen gesprochen wird, können im nächsten Moment die persönliche Integrität, politische Haltungen und moralische Einstellungen von Anwesenden im Fokus stehen. Lehrkräfte und Pädagog:innen können sich meist nicht auf die Rollen einer neutralen Moderation zurückziehen. Ein mehrdeutiges Wort, eine unbedachte Geste, eine Unaufmerksamkeit kann dazu führen, dass sie in den Konflikt involviert werden und aufgefordert sind, sich selbst politisch-moralisch zu positionieren.
In der Forschung wird es künftig stärker darum gehen müssen, angesichts von Antisemitismus, fehlenden Kenntnissen, diversen normativen und politischen Deutungen der Komplexität im Nahen Osten die Dynamiken von Lehr-Lernprozessen in Bildungseinrichtungen zu entschlüsseln, die Möglichkeiten und Spielräume pädagogischen Handelns auszuloten und die Grenzen von Bildung und Begrenzungen von Bildungssettings realistisch und möglichst präzise zu benennen. Dabei wird es auch darum gehen, politische Bildung zu fördern, auch in Zeiten knapper finanzieller Mittel. Ein wichtiger Teil ist die Aufklärung über Antisemitismus, hier wäre zu klären, ob neue Konzepte nötig sind. Davon ausgehend sind empirische und theoretische Forschung über die konkrete Umsetzung bekannter, modifizierter oder neuer Konzepte vonnöten. Wenn etwa – wie bislang vorliegende Studien zeigen – gut gemeinte historisch-politische Aufklärung über Antisemitismus dazu führt, dass z.B. im Schulunterricht oder Schulbüchern antisemitische Stereotype reproduziert werden, macht dies auf bislang nur wenig beachtete Nebeneffekte solcher Aufklärungsansprüche aufmerksam. Es ist paradox und doch offenbar pädagogisch nötig: Um Unterricht über die Entstehung und die besondere Struktur antisemitischer Stereotype durchzuführen, müssen diese Stereotype als solche dargestellt und benannt werden. Sie müssen aufgerufen und ausdrücklich zum Thema gemacht werden, damit sie besprochen und deren perfide Mechanismen freigelegt werden können.
Mehr Bildung = weniger gesellschaftliche Konflikte?
Doch hier gilt – wie in jedem Unterricht –, dass nicht immer (nur) das gelernt wird, was gelernt werden soll. Schulisches Vermittlungswissen trifft im Unterricht auf Schüler:innen mit unterschiedlichem Vorwissen, die aus dem ihnen gebotenen fachlichen Wissen oftmals ihre eigenen, pädagogisch-didaktisch nicht intendierten, Schlüsse ziehen. Im Mathematikunterricht sind falsche Lösungswege, die in der Klasse kursieren, ärgerlich, aber normativ nicht aufgeladen, wie antisemitische Stereotype, die sich im und durch Unterricht reproduzieren und verfestigen können. Über solche Mechanismen und unbeabsichtigte Nebenfolgen historisch-politischer Bildung wissen wir in der Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung noch zu wenig. Bisher verdichtet sich die Erkenntnis, dass mehr Bildung und Erziehung nicht zwangsläufig zur Lösung historisch tief wurzelnder gesellschaftlicher Probleme beitragen. In öffentlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen wird vielfach reproduziert, was gesellschaftlich ohnehin bereits verhandelt und problematisiert wird. Das wusste bereits Siegfried Bernfeld, der schon 1925 mit seinem Buch „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ die etablierte Pädagogik darauf hingewiesen hatte, dass ihr Tun Grenzen hat. „Die Erziehung ist konservativ. Ihre Organisation ist es insbesondere. Niemals ist sie die Vorbereitung für eine Strukturveränderung der Gesellschaft gewesen. Immer – ganz ausnahmslos – war sie erst die Folge der vollzogenen“ (Bernfeld 2000: 119).
Die Rezeption von Bernfeld, einem jüdischen Kindheits- und Jugendforscher, Marxisten und psychoanalytisch orientierten Intellektuellen, war dementsprechend ambivalent, stellte er doch die großen pädagogischen Ziele und Wirkungshoffnungen in- frage. Auf schmerzliche Weise machen Bernfelds Ausführungen auch heute deutlich, dass Erziehung und Bildung nicht die Avantgarde für gesellschaftliche Veränderung, sondern zuvorderst der Resonanzboden für gesellschaftliche Konfliktlagen sind, auf die sich Pädagog:innen oft fachlich nicht gut vorbereitet fühlen. Hier liegt ein großer Teil der Verantwortung in der universitären Lehre.
Am Fachbereich Erziehungswissenschaften greift das Lehr- und Forschungsforum „Erziehung nach Auschwitz“ diese Herausforderungen aktiv auf und versucht – in diesem Jahr beispielsweise durch vier thematisch einschlägige Hearings in Kooperation mit der jüdischen Akademie – Bildungsgelegenheiten für Studierende und Lehrende zu schaffen (s. Beitrag unten).
In seiner Rede an Studierende in Wien hatte Adorno unter dem Titel „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ ein „zuschauerhaftes Verhältnis zur Wirklichkeit“ (Adorno 2019: 55) problematisiert und die Zuhörenden aufgefordert, in einem solchen Verhältnis nicht zu verharren. Die letzten Wochen haben einmal mehr gezeigt, dass auch und gerade von der Universität und ihren Mitgliedern zu klären ist, was diese Forderung für ihre Forschung und ihre Lehre konkret bedeutet.
Sabine Andresen ist Professorin für Familienforschung und Sozialpädagogik; Wolfgang Meseth ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Erziehung, Politik und Gesellschaft. Beide forschen und lehren an der Goethe-Universität.
Literatur
Adorno, Theodor W. Adorno (2019):
Aspekte des neuen Rechtsradikalismus.
Berlin: Suhrkamp.
Bernfeld, Siegfried: (2000):
Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung.
Frankfurt/M: Suhrkamp.
Rückblick auf das Hearing »Was wissen wir über das Erziehungssystem im Nationalsozialismus?«
Rückblick auf das Hearing »Was wissen wir über das Erziehungssystem im Nationalsozialismus?« Die vierteilige Hearingreihe des Lehr-und Forschungsforums »Erziehung nach Auschwitz« befasst sich mit Herausforderungen der schulischen und außerschulischen Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoah unter den Bedingungen aktueller erinnerungspolitischer Konfliktlagen. Im dritten Hearing am 1./2. November erörterten Expert:innen der historischen Bildungsforschung und ca. 70 Teilnehmer:innen die Frage »Was wissen wir über das Erziehungssystem im Nationalsozialismus?« Auf der Grundlage einer konzisen Darstellung des Forschungstandes (A. Rohstock, Kassel) wurde das »Eugenik-Programm« des Nationalsozialismus und die darin enthaltenden Semantiken »bildungsunfähig« »minderwertig« oder »lebensunwert« rekonstruiert (V. Moser, Frankfurt) sowie die Folgen solcher dehumanisierenden Semantiken für die damalige Jugendfürsorge (C. Kuhlmann, Bochum) in den Blick genommen.
Die Frage, wie sich Judenfeindschaft in nationalsozialistischen Jugendverbänden als indoktrinatorisches Kernelement zeigt und bildungshistorisch analysieren lässt, diskutierte ein weiterer Beitrag am Beispiel der Mitgliederzeitschrift »Bund Deutscher Mädel« (BDM) (J. Riepenhausen), bevor abschließend der Frage nachgegangen wurde, wie die NS-Geschichte in der Geschichtsdidaktik nach 1945 aufgegriffen wurde (C. Brüning, Uni Marburg). Hier zeigte sich ein ähnliches Bild wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen sowie in Politik, Recht und öffentlichem Leben: Auch hier sind es personelle Kontinuitäten zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik, die zu einer verspäteten Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und Aufarbeitung von Schuld und Verantwortung, von persönlicher Verstrickung und ideologischen Kontinuitäten geführt haben.
Eindrücklich haben die vor allem wissensgeschichtlich inspirierten Beiträge der Tagung darauf aufmerksam gemacht, dass und wie sich insbesondere Antisemitismus, aber auch die Semantiken der »Bildungsunfähigkeit« sowie des Kolonialrassismus von der Weimarer Republik über die dramatische Zuspitzung im Nationalsozialismus bis in die beiden Nachfolgestaaten des Dritten Reiches hinein verfolgen lassen. Hierbei präzise zwischen historischen und aktuellen antisemitischen, rassistischen und ableistischen Erscheinungsformen zu unterscheiden, Kontinuitäten und Brüche zwischen NS-Vergangenheit und der inzwischen langen deutschen Nachkriegsgeschichte zu identifizieren und die Erscheinungsformen solcher Semantiken in den jeweiligen Erziehungssystemen kontextbezogen freizulegen und zu bewerten, bildet eine zentrale Herausforderung zukünftiger Forschung, die als zentrales Ergebnis dieses dritten Hearings festgehalten werden kann.
Das vierte und letzte Hearing findet am 31. Januar bis 1. Februar 2024 in der Jüdischen Gemeinde zum Thema »Gedenkstätten – Museen – außerschulische Jugendbildung« statt. Weitere Informationen zum Lehr-und Forschungsforum »Erziehung nach Auschwitz« finden Sie unter: https://luf-forum.uni-frankfurt.de/