»Wir sollten direkte Demokratie als ein demokratisches Instrument würdigen«

Der Politikwissenschaftler Nenad Stojanović übernimmt in diesem Wintersemester die Alfred Grosser-Gastprofessur.

Nenad Stojanović. Foto: KEYSTONE / Alessandro della Valle

UniReport: Herr Prof. Stojanović, der gerade neu gewählte argentinische Präsident hat sich bereits als Demokratiefeind zu erkennen gegeben. Muss man Angst vor solchen Leuten haben?

Nenad Stojanović: Ja, das ist tatsächlich eine Herausforderung für die Demokratie, im schlimmsten Fall sogar eine Gefahr. Wenn populistische Leader, Politiker oder Parteien an die Macht kommen – dank der demokratischen Institutionen und Freiheiten, über die wir in unseren liberalen Gesellschaften verfügen – profitieren sie sozusagen von der Tatsache, dass man ja auch freie Wahlen hat und freie Medien und man sich frei äußern kann etc. Wenn sie einmal die Macht ergriffen haben, besteht die Gefahr, dass sie dann versuchen, schrittweise diese verschiedenen Freiheiten und Rechte zu untergraben.

Wenn man sich jetzt auf Europa fokussiert, sieht man das zum Beispiel in Ungarn an der Politik Orbans: Seitdem er an der Macht ist, hat er offen gesagt, dass Ungarn zwar eine Demokratie sei, aber es müsse keine liberale Demokratie sein, er könne sich auch eine nichtliberale Demokratie vorstellen. Es gibt nur noch wenige unabhängige Medien in Ungarn, sogar eine Forschungsinstitution wie die Central European University, eine der besten Universitäten in Zentralosteuropa, wurde mit gewissen Gesetzesänderungen verboten.

Auch in Deutschland haben Teile der Bevölkerung mitunter den Eindruck, dass ihre Themen in den politischen Meinungsbildungsprozessen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Ein Populist wie der neue argentinische Präsident kann sich ja sehr schnell diese Themen zu eigen machen.

Populismus muss nicht unbedingt per se schlecht sein. Es ist oft ein Zeichen, dass die Institutionen der Politik bei gewissen Bevölkerungsgruppen versagt haben. Wenn man von den traditionellen politischen Parteien und denjenigen, die regiert haben, enttäuscht ist, verzichtet man dann darauf, überhaupt an den Wahlen zu partizipieren. Wenn man dann eine neue Partei entdeckt, die etwas ganz anderes verspricht, dann ist es erst einmal verständlich, dass man seine Hoffnungen darauf setzt. Populisten schaffen es eben, diese Menschen wieder in die Politik zu integrieren. Es ist besser, dass jemand so partizipiert, als dass er überhaupt nicht mehr partizipiert. Sehr oft werden Versprechen aber nicht eingehalten und gerade populistische Politiker, die gegen herrschende Eliten wettern, sind dann sehr oft in Korruptionsfälle verwickelt.

Die Frage, welche Gefahren von solchen Politikern ausgehen, ist geknüpft an die Frage, wie stark die Institutionen sind, um mit dem System von Checks and Balances dagegenzuhalten. Man könnte sagen, dass zum Glück in den USA trotz allem, was in den letzten Jahren passiert ist, Trump am Ende doch nicht alles machen konnte, was er wollte.

In ihrem Heimatland, der Schweiz, werden viele Verfahren der direkten Demokratie schon praktiziert. Wie lassen sich die Unterschiede zu Deutschland beschreiben?

Erstens: Mit dem Begriff der Direktdemokratie sind Referenden und Volksinitiativen gemeint, um die Verfassung zu ändern oder sich Entscheidungen des Parlaments entgegenzustellen. Die Schweiz ist auf der Welt das einzige Land, wo Referenden so häufig, etwa 3 bis 4 pro Jahr, und zwar auf allen drei Ebenen – kommunal, kantonal und national – genutzt werden. In Deutschland hingegen dürfen Referenden nicht auf nationaler Ebene durchgeführt werden, nur auf Länderebene oder Gemeindeebene. Das heißt, die Gesetze, die der Bundestag beschließt, können nicht durch ein Referendum bekämpft werden. Zweitens muss man den ausgeprägten Föderalismus der Schweiz, die Autonomie der Kantone, hier nennen. Deutschland ist zwar auch ein Bundesstaat, aber die nationale Regierung und ihre Gesetze sind in Deutschland mächtiger als in der Schweiz. Und drittens ist natürlich der große Unterschied die EU, der die Schweiz bekanntlich nicht angehört. Was den Aspekt des Populismus betrifft: Die Schweiz ist diesbezüglich nicht so einfach zu klassifizieren. Es gibt zwar auch bei uns Parteien, die wir populistisch nennen können, vor allem die Schweizerische Volkspartei (SVP). Prozentual gesehen ist die SVP schon seit 20 Jahren die stärkste Partei in der Schweiz. Aber, um einen vierten Unterschied zwischen der Schweiz und Deutschland zu nennen, haben wir es mit sogenannten Konkordanzregierungen zu tun: Nahezu alle Exekutive in der Schweiz, auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene, werden von Vertretern verschiedener Parteien gebildet. Es gibt aber im Unterschied zu den deutschen Koalitionsregierungen keinen Koalitionsvertrag. Das Wahlsystem ist so gestrickt, dass sich am Ende eine Exekutive gebildet hat, der die Vertreter der wichtigsten Parteien, von links bis rechts, angehören. Das heißt, man kommt nicht in eine Situation, wo man es mit einer problematischen populistischen Partei, ob jetzt rechts- oder linksradikal, zu tun bekommt. Mit solchen radikalen Parteien erst gar keine Partei zu bilden, wird in Deutschland, Frankreich und Belgien praktiziert. Parteien damit von der Teilnahme an der Exekutive auszuschließen, würde in der Schweiz so nicht funktionieren, denn das Wahlsystem ermöglicht den Wählerinnen und Wählern zumindest auf kommunaler und kantonaler Ebene, die Mitglieder der Exekutive direkt zu wählen.

Sie haben sich in Ihrer Forschung mit Bürgerräten beschäftigt. Ist das eine Schweizer Spezialität?

Eigentlich ließe sich sogar sagen, waren wir mit dem Projekt „Demoscan“ eher spät dran im Vergleich zu Ländern wie Frankreich, Belgien und den USA. Auch in Deutschland gibt es eine ganze Reihe von Bürgerräten. So gesehen haben wir in der Schweiz damit eher das Ausland kopiert. Ganz grundsätzlich betrachtet sind solche Bürgerräte und das Wiederentdecken von Losverfahren eine der Antworten – und ich würde sogar behaupten, die Hauptantwort –, die sich jetzt durchgesetzt hat, auf die Krise der repräsentativen Demokratie zu reagieren. Weil in den repräsentativen Demokratien die Wahlbeteiligung sinkt, die traditionellen politischen Parteien entweder implodiert sind wie in Frankreich oder sich doch in großen Schwierigkeiten befinden wie in Deutschland und in Italien und neue populistische Bewegungen auf den Plan getreten sind, bedarf es Lösungen, wie man der Krise entgehen kann.

Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die sagen, wir brauchen weniger Demokratie, aber dafür bessere Entscheidungen. Eine andere Position, auf die Krise der repräsentativen Demokratie zu reagieren, ist nun, noch mehr Demokratie zu wagen. Das kann mehrere Sachen bedeuten, aber es hat sich vor allem die Idee der Bürgerräte durchgesetzt, um breitere Schichten der Bevölkerung besser und vor allem anders in das politische Leben zu integrieren, und zwar mit Losverfahren. In einem Losverfahren sind wirklich alle gleich, jeder und jede hat genau die gleiche Chance, ausgelost zu werden. Die Bürgerräte sind nicht einfach wie ein Parlament. Es soll durch Deliberation, durch Diskussion, durch Austausch von Argumenten geschaut werden, wer die besten Argumente hat. Was sich zeigt: Die Mitglieder der Bürgerräte sind tatsächlich bereit, ihre eigenen Positionen zu ändern, wenn sie vom besseren Argument überzeugt sind.

Was verbirgt sich hinter dem Schweizer Projekt »Demoscan«?

„Demoscan“ ist eines der verschiedenen Modelle von Bürgerräten; hier sind aber die Bürgerräte verknüpft mit den Referenden. Die per Los ausgewählten Bürgerinnen und Bürger diskutieren über das Thema des Referendums, das etwa zwei Monate später zur Abstimmung kommt, und sie müssen eben einen Bericht darüber schreiben, was die jeweiligen Vorteile und Nachteile sind. Dieser Bericht, wir haben ihn Bürgerbrief genannt, wird dann an alle Stimmberechtigten in der jeweiligen Stadt oder im Kanton verschickt. Sehr oft ist es nämlich für die Stimmberechtigten schwierig, komplexe Themen in Referenden sofort zu verstehen; die offiziellen Abstimmungsbüchlein sind oft zu komplex.

Kann man da schon sagen, dass das wirklich eine förderliche Wirkung sozusagen auf die Demokratie, auf Bürgerbeteiligung hat?

Insgesamt sind diese Bürgerräte sehr positiv für die Entwicklung der Demokratie. Aber ergänzend, nicht als Ersatz bestehender Institutionen der repräsentativen Demokratie. In Frankfurt gibt es, geleitet von Brigitte Geißel, ein Forschungszentrum, das sehr viel zu solchen demokratischen Innovationen geforscht hat. Selbstverständlich muss man aufpassen, dass die Durchführung von Bürgerräten nicht zu einer Alibiübung der Regierung mutiert. In Frankreich hatte Präsident Macron einmal eine Art von Klimabürgerrat einberufen, aber am Ende diente das nur dem Ziel, den Druck von der Straße zu nehmen. Aus diesem Grund wäre natürlich eine Institutionalisierung solcher Bürgerräte gut. Dann wäre klar, dass sie nicht einfach nur als Experimente durchgeführt werden.

Ihr stadtöffentlicher Vortrag trägt den Titel: »Direkte Demokratie gegen Populismus?« Können Sie schon verraten, wie Sie die Frage beantworten werden?

Die Hauptbotschaft meines Vortrags wird sein: Wir sollten direkte Demokratie als ein demokratisches Instrument würdigen und nicht als etwas sehen, das Populisten fördert. Das ist nämlich die Hauptkritik gegen Referenden, auf die man oft in Deutschland, Frankreich und Belgien stößt. Ich werde versuchen, eine Gegenthese zu entwickeln. Je nachdem, wie die Direktdemokratie gestaltet wird, kann sie auf den Populismus bremsend wirken. Warum? Es ist eben viel einfacher für einen Populisten in einem Land, wo es keine Referenden gibt, zu behaupten, er spreche im Namen des Volkes. Es ist natürlich schwieriger, das zu behaupten, wenn es dafür keine Bestätigung in der Bevölkerung gibt. Wichtig für die direkte Demokratie ist auch, dass es diese Checks and Balances gibt. Das ist eigentlich schon der Grund, warum wir überhaupt von liberalen Demokratien sprechen. Denn Demokratie heißt ja nicht einfach, dass alle ein Stimmrecht haben und die Mehrheit entscheidet. Das wäre die Tyrannei der Mehrheit. Wichtig hingegen ist, dass es gewisse Rechte gibt, die in der Verfassung geschützt sind. Die auch geschützt sind vor einem möglichen demokratischen Entscheid der Mehrheit. In der deutschen Verfassung gibt es die sogenannten Ewigkeitsklauseln – also genau die Rechte, die man ewig schützen möchte.

Nenad Stojanović ist Professor für Politikwissenschaft des Schweizerischen Nationalfonds SNF an der Universität Genf, Assoziierter Forscher am Zentrum für Demokratie Aarau und Privatdozent an der Universität Luzern. Sein stadtöffentlicher Vortrag im Rahmen der Grosser-Gastprofessur über »Direkte Demokratie gegen Populismus?« findet statt am Montag, 29.1.2024, um 19.00 Uhr s.t. im Casino, Raum 1.801 (Renate von Metzler-Saal).

Mehr Infos zur Alfred Grosser-Gastprofessur des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften in Kooperation mit der Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main finden Sie hier.

Fragen: Dirk Frank

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