Es ist die erste Poetikdozentur, die der Schweizer Schriftsteller übernimmt. Mit großer Spannung werden daher Christian Krachts Vorlesungen an der Goethe-Universität erwartet. Er wird vom 15. – 22. Mai in drei Vorträgen über die Entstehungsgrundlagen, die Einflüsse und die Fluchtpunkte seiner literarischen Arbeit sprechen.
Nach einem Studium der Film- und Literaturwissenschaften und neben unterschiedlichen journalistischen Arbeiten veröffentlichte Kracht 1995 den Roman „Faserland“. Auch wenn der Autor das Label nie gemocht hat, gilt der Roman als Gründungsdokument einer neuen deutschen Popliteratur. Während die Leserschaft sich begeistert zeigte, war das Feuilleton eher negativ eingestellt.
Der „Schnösel aus besserem Hause“, so die pejorative Beschreibung des durch Deutschland reisenden und irrenden Romanhelden, wurde meist unterschiedslos auch der Verfasser genannt. Auch wenn die Ineinssetzung von Autor und Werk natürlich gegen literaturwissenschaftliche und auch -kritische Gepflogenheiten verstößt, hat Kracht selber immer wieder das Verwirrspiel befeuert; Ansichten und Verhaltensmuster seiner Figuren finden sich zuhauf sowohl in seinen nicht-fiktionalen Texten als auch in seinen seltenen Interviews und Fernsehauftritten.
Die Abneigung des Helden aus „Faserland“ gegen Frankfurt („extrem abstoßend“) findet sich bereits auch in Krachts Reportage „60 Stunden VIVA“ für den SPIEGEL (1994): Er soll in die „hässlichste Stadt Deutschlands“ fahren und entscheidet sich kurzerhand für – Frankfurt. Sechs Jahre nach „Faserland“ folgte der Roman „1979“, der kurz nach 9 /11 erschien und große internationale Anerkennung fand.
„1979“ spielt kurz vor der islamischen Revolution in Teheran und endet in einem chinesischen Arbeitslager. Das Triptychon, wie Kracht in einem Interview seine ersten drei Romane selbst bezeichnet hat, fand mit „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ (2008) seinen Abschluss. Auch hiermit überraschte Kracht seine Kritiker, die in seinen Texten immer das Vordergründige und die Gegenwartsbezogenheit früher Poptexte suchten; Kracht erzählt im Modus einer Dystopie von einem anderen Verlauf der Weltgeschichte nach 1917: Lenin fährt nicht zurück nach Russland, sondern baut eine „Schweizer Sowjet Republik“ zur Kolonialmacht auf, die sich in einem globalen Endzeit- Krieg befindet.
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Nicht zuletzt aufgrund der faszinierend-verstörenden Wirkung seiner Texte widersetzt sich Krachts Literatur eindeutigen Zuschreibungen. Das Heft geht dieser Poetik der Uneindeutigkeit anhand verschiedener Facetten wie den ambivalenten Ordnungen des Erzählens, der Skandalisierung von Autorschaft, Krachts literarisch betriebener Geopolitik oder den paratextuellen Rahmungen seiner Romane nach. Beiträger des vorliegenden Bandes sind u. a. Prof. Susanne Komfort-Hein und Prof. Heinz Drügh, beide Germanisten an der Goethe-Universität Frankfurt.
TEXT+KRITIK 216/2017: Christian Kracht, herausgegeben von Christoph Kleinschmidt (Universität Tübingen). München: edition text+kritik, 104 Seiten, 24 Euro
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Das »Krachtianische«
Mit „Imperium“ (2012) greift Kracht wiederum ein historisierendes Thema auf: Er erzählt die bizarre Geschichte des deutschen Aussteigers August Engelhardt, der Anfang des 20. Jahrhunderts sich in der Kolonie Deutsch-Neuguinea als Begründer des „ Kokovorismus“ nur noch von Kokosnüssen ernähren will. Der Roman wurde mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis der Stadt Braunschweig ausgezeichnet.
Krachts letzter Roman, „Die Toten“ (2016), handelt von einem imaginären Filmprojekt zu Beginn der 1930er Jahre: Ein Schweizer Regisseur wird nach Japan geschickt, um dort im Auftrag des Filmmoguls Hugenberg einen Gruselfilm zu drehen, um, wie es sich auch ein Mitarbeiter des japanischen Kulturministeriums erträumt, eine „zelluloide Achse“ zwischen Tokio und Berlin zu bauen.
Susanne Komfort-Hein spricht in ihrer Interpretation in der Zeitschrift Text+Kritik von einer „Melange aus historischen Fakten und Fiktionen, angereichert mit kontrafaktischer Energie, die wie zuvor im Roman ‚Imperium‘ vermeintlich historisch Wohlbekanntes zur bisweilen bizarren (Un-)Kenntlichkeit überschreibt.“ Kracht erhielt für „Die Toten“ den Schweizer Buchpreis; für sein bisheriges Werk wurde ihm der Hermann-Hesse-Literaturpreis verliehen.
Neben den genannten Romanen und weiteren Veröffentlichungen (u. a. „Tristesse Royale. Ein popkulturelles Quintett“, mit Benjamin v. Stuckrad-Barre, Eckhard Nickel, Joachim Bessing und Alexander v. Schönburg, 1999) sind von Christian Kracht auch Hörbücher (u. a. „Liverecordings“ (1999) und Reiseberichte (u. a. „Der gelbe Bleistift“, 2000) erschienen. Des Weiteren hat Christian Kracht auch das Drehbuch zu „Finsterworld“ geschrieben, das erfolgreich und vielfach ausgezeichnet unter der Regie seiner Frau Frauke Finsterwalder verfilmt wurde.
In dem Film tauchen überdeutlich einige Motive aus Krachts Romanen auf. So werden wie in „Faserland“ deutsche Befindlichkeiten in verschiedenen Generationen vermessen; zynische Jungspunde treffen auf verschüchterte Romantiker, gutmeinende Lehrkräfte und überkandidelte Medienschaffende. Der Film hat u. a. den Preis der deutschen Filmkritik für das „Beste Drehbuch 2013“ erhalten.
Die Rezeption von Krachts literarischen Texten hat sich seit dem Erscheinen „Faserland“ grundlegend geändert; vonseiten des bürgerlichen Feuilleton erhält Kracht mittlerweile große Anerkennung, wenngleich sich nach wie vor die Geister scheiden an Krachts Strategie, auch jenseits seiner Bücher Fakten und Fiktionen über seine Person und sein Werk ununterscheidbar in die Welt zu setzen.
In zwei exklusiven Vorab-Interviews zum Buch „Die Toten“ strickten die Literaturkritiker Denis Scheck („Druckfrisch“) und Ijoma Mangold (Die Zeit), so einige empörte Beobachter, sogar freiwillig an der Autorinszenierung mit. Die Literaturwissenschaftler Moritz Baßler und Heinz Drügh erläutern das „Krachtianische“ – geprägt wurde der klappentexttaugliche Begriff angeblich vom norwegischen Erfolgsautor Karl-Ove Knausgård – in ihrem Aufsatz in Text+Kritik folgendermaßen:
„Krachts literarische Ästhetik […] erhält ihre besondere Gegenwärtigkeit dadurch, dass sie weder auf etablierte literarästhetische Positionen vertraut noch sich in einem autonomieästhetischen Raum einkapselt, sondern auf aufschlussreiche wie originelle Weise kontemporäre Positionen des Ästhetischen unter Markt- und Medienbedingungen verhandelt.“
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2.18 (PDF-Download) des UniReport erschienen.