Wie wird Inklusion an den Schulen Wirklichkeit?

Foto: Sauter
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Menschen mit Behinderung haben dieselben Menschenrechte wie alle anderen Menschen: eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Zur Bekräftigung und Präzisierung dieser Tatsache haben die Vereinten Nationen (UN) 2006 die Behindertenrechtskonvention verabschiedet, die von 158 Staaten unterzeichnet wurde – 2009 auch von der Bundesrepublik Deutschland.

Darin werden auch spezifische, vor allem behinderte Menschen betreffende Regelungen getroffen. Artikel 24 bezieht sich auf den Bereich Bildung: Um Diskriminierung zu vermeiden und Chancengleichheit zu verwirklichen, verpflichten sich die Vertragsstaaten, ein integratives bzw. inklusives Schulsystem einzurichten. Dabei liegt der Fokus nicht an der Behinderung an sich, sondern auf den Barrieren, die die soziale Teilhabe einschränken.

Ziel ist eine Gesellschaft, in der niemand integriert werden muss, weil jeder von vornherein dazugehört. Eine Utopie? Auf alle Fälle ein großes Ziel, an dem stetig und auf vielen Ebenen gearbeitet werden muss. In Deutschland wird über das Thema lebhaft diskutiert. Das deutsche Schulsystem mit seiner frühen Aufteilung der Kinder auf verschiedene Schulformen tut sich teils schwer mit der Umsetzung der Konvention.

Diese verbietet Förderschulen zwar keineswegs, sie schreibt jedoch einen gleichberechtigten Zugang aller zum Bildungswesen vor. Ein Rückbau der Förderschulen würde den inklusiven Prozess beschleunigen und mehr Mittel freisetzen, argumentieren Experten. Auch die Stadt Frankfurt hat sich auf den Weg gemacht:

Im Rahmen des Programms „Modellregion Inklusion“ sollen Förderschulen in Förderzentren umgebaut und Ressourcen an die Regelschulen verlagert werden. Auf Einladung des UniReports diskutieren der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Prof. Dieter Katzenbach und Martina Franke, Leiterin der Johann-Hinrich-Wichern-Schule (Frankfurt) mit Förderschwerpunkt Lernen.

Frau Franke, was meinen Sie: Wird es die Wichern-Schule in 20 Jahren noch geben?

Martina Franke: Das ist eine Frage, die ich mir auch schon oft gestellt habe. Ich würde mich freuen, wenn es in 20 Jahren eine Pädagogik gäbe, die die Kinder in ihrer Verschiedenheit annimmt. Dann ist es fast gleich, ob an unserer Schule oder woanders.

Herr Katzenbach, Sie plädieren für eine Abschaffung der Sonderschulen. Was sagen Sie Eltern, die denken, ihr Kind wird im geschützten Raum einer Förderschule am besten gefördert?

Dieter Katzenbach: Die Forderung richtet sich ja nicht deshalb gegen die Existenz von Förderschulen, weil dort schlechte Arbeit gemacht würde. Im Gegenteil: Das, was an Förderschulen passiert, soll ins Regelschulsystem transportiert werden. Ich habe im Einzelfall großes Verständnis für Eltern, die sich für eine inklusive Beschulung entschieden hatten und dann aufgeben und das Kind an die Förderschule bringen. Der Punkt ist: Wie können wir unser Schulsystem so entwickeln, dass wir auf Aussonderung verzichten können? Dass Kinder nicht zu Opfern im Regelschulsystem werden und an der Förderschule mühselig zum Lernen zurückgeführt werden müssen?

Indem wir die Förderschulen abschaffen?

Katzenbach: Die Weiterexistenz von Parallelsystemen festigt genau die Funktion, die die Förderschulen schon immer hatten: eine Entlastungsfunktion. Und solange es Förderschulen gibt, wird sich die Regelschule für nicht zuständig erklären für bestimmte Kinder. Mir ist bewusst, dass das für die konkreten Probleme von Eltern und Kindern keine befriedigende Antwort ist.

Franke: Es ist ein guter Gedanke, dass jedes Kind an der allgemeinen Schule gut aufgehoben sein soll, aber von bildungsbewussten Eltern erfolgt eine Abstimmung mit den Füßen, ein Run auf Gymnasien und Privatschulen. Soll aber der Elternwille im einen Bereich gelten, im anderen nicht? Warum glauben Wissenschaft und Politik etwas pushen zu müssen, was die Eltern nicht wollen?

Katzenbach: Inklusion ist mitnichten etwas, was sich Wissenschaftler oder Politiker ausgedacht haben. Die Initiative ging in den 1970er Jahren von Eltern und Pädagogen aus der Praxis aus. Politik und Wissenschaft waren damals noch nicht soweit.

Inzwischen hat sich die Bundesrepublik durch Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet, inklusive Schulen zu schaffen.

Franke: Theoretisch klingt das ja gut. Aber schauen Sie sich doch die Bedingungen an den Schulen an: Wir haben in Frankfurt Regelschulen, die sich viel Mühe geben, aber sie fühlen sich allein gelassen. Solange nicht mehr in die Schulen hineingegeben wird, kann man leicht sagen: Wir machen die Förderschulen zu, damit man die Ressourcen in die Regelschulen bekommt. Die Rechnung geht nicht auf: Bei uns stehen für 16 Schüler 28 Stunden zur Verfügung. Wenn ich einen Schüler mit seinen umgerechnet 1,75 Stunden an die Regelschule gebe, dann geht der mir unter.

Katzenbach: Der Umfang der Ressourcen ist ein Problem. Aber man kann auch nicht sagen, das Kind hat an der Regelschule nur noch 1,75 Stunden Unterricht. Die 1,75 Stunden sind für den zusätzlichen Bedarf. Andere Länder haben gezeigt, wie es geht: Ressourcen in das System geben, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist, für präventive Aufgaben. Bei uns hingegen ist zu beobachten: Wir haben zwar immer mehr Kinder in der Inklusion, aber nicht weniger Kinder an den Förderschulen.

Wie das?

Katzenbach: Die Zielvorstellung der Politik ist es, die sogenannte Inklusionsquote zu erhöhen. So wird einfach mehr Kindern Förderbedarf attestiert. Das geht, weil sonderpädagogischer Förderbedarf eine extrem unscharfe Kategorie ist. So haben wir in Deutschland grotesk unterschiedliche Behindertenquoten. Die Wahrscheinlichkeit, als geistig behindert zu gelten, ist in Mecklenburg- Vorpommern 2 – 3 mal so hoch wie in Rheinland-Pfalz. Das ist durch die Eigenschaften der Kinder nicht erklärbar.

Mit welchen Erfahrungen kommen die Kinder aus der Regelschule zu Ihnen, Frau Franke?

Franke: Sie haben erlebt, dass der Lehrer zwar sagt, das hast du gut gemacht, in der Pause stehen sie aber alleine da. Eltern sehen bei uns: Hier darf mein Kind so sein wie es ist, und es findet Freunde.

Passt die inklusive Schule nicht in unsere Leistungsgesellschaft?

Katzenbach: Meines Wissens sind weder Kanada noch die skandinavischen Ländern oder Italien sozialistische Länder. Dennoch haben sie erfolgreich das Förderschulsystem zurückgebaut.

Franke: Norwegen und Kanada sind nicht mit uns vergleichbar. In Frankfurt etwa leben Menschen unterschiedlichster Nationen auf engstem Raum zusammen. Italien ist für mich kein Vorbild, dort sind Kinder mit Förderbedarf nicht wirklich integriert. Wir können viel von Norwegen oder Kanada lernen, aber wir haben das Setting, das wir hier haben.

Katzenbach: Die Frage war ja, ob in einer Leistungsgesellschaft eine inklusive Schule funktionieren kann. Die hohe Sortierneigung, die wir in Deutschland haben, ist problematisch. In kaum einem anderen Land werden Kinder schon nach der vierten Klasse aufgeteilt.

Geht die Modellregion Inklusion in die richtige Richtung?

Katzenbach: Ja, aber ein echtes Umsteuern sähe anders aus. Bislang bezieht sich der Umbau vor allem auf den Förderschwerpunkt Lernen, auf eine Gruppe, die vor allem sozial benachteiligt ist. Das ist zugleich der Bereich, der am schlechtesten ausgestattet ist, und die freiwerdenden Ressourcen werden für ganz Frankfurt nicht reichen. Wir haben Ressourcen, sie werden nur oft nicht zielgerichtet verwendet: Kinder mit geistiger oder körperlicher Behinderung haben einen Anspruch auf einen Integrationshelfer, pädagogische Vorbildung ist dafür aber nicht unbedingt notwendig: Da gibt es dann in manchen Klassen vier, fünf Erwachsene. Und dabei soll die Gemeinsamkeit der Kinder untereinander gefördert werden.

Was müsste man anders machen?

Katzenbach: Die Haltung macht den Unterschied. Ich würde das mit so einem altmodischen Wert wie Fürsorge beschreiben. Ein Schulleiter in Kanada hat mir gesagt, wir sorgen dafür, dass es für jedes Kind an der Schule einen Erwachsenen gibt, der sagen kann, ich freu mich, dass du kommst. Andere Länder haben nicht unbedingt mehr Lehrer oder mehr Sonderpädagogen, aber Schule kann immer auch auf andere Fördersysteme zugreifen. Die Haltung ist nicht: Guck, wie du im Rahmen unseres Systems funktionierst, und wenn du nicht funktionierst, dann haben wir einen anderen Platz für dich.

Sehen Sie sich als Auffangstation für den Fall, dass Schüler „nicht richtig funktionieren“?

Franke: Ich denke, im Kern trifft es das schon. Viele Kinder und Eltern kommen im Regelschulsystem an ihre Grenzen. Und auch das Regelschulsystem ist an seinen Grenzen.

Katzenbach: Die Systeme, die uns voraus sind, haben für die Bereiche Lernen, Sprache, Verhalten keine an einzelnen Kindern festgemachte Personalausstattung, sondern da gehört es zur Grundversorgung einer Schule. Da braucht es dann auch keine aufwändigen Erhebungsverfahren.

Franke: Mir ist eine gute Diagnostik wichtig. Was ist der Grund für schulisches Versagen? Ist die Begabung zu gering? Liegt es an der Aufmerksamkeit? Oder versagt das Kind, weil es hochbegabt ist und sich langweilt? Oft wird kolportiert, Inklusion heißt, kein Kind bekommt mehr ein Label. Aber ich finde es wichtig zu wissen, was einem Kind beim Lernen hilft.

Katzenbach: Sonderpädagogen müssen auch milieureaktiv vorgehen können. Es gibt Familien, die mit den Anforderungen von Schule wenig vertraut sind und nicht wissen, was von ihren Kindern, was von ihnen selbst erwartet wird. Das betrifft nicht nur bildungsferne Schichten. Nur in Deutschland ist die Elternverantwortung so stark – aber eben auch das Mitspracherecht. Eine hochambivalente Sache.

Franke: Schule muss sich immer daran messen lassen, wer hat die meisten Übergänge zum Gymnasium. Eltern, die es sich leisten können, gehen zur Privatschule. Weder der Wissenschaft noch der Politik gelingt es, einen Konsens zu finden, der die Elternschaft vereint.

Katzenbach: Deutschland hat die Umstellung auf ein Gesamtschulsystem verpasst. Heute ist der Anteil der Gymnasiasten so hoch, dass kein Politiker mehr wagt, sich für die Gesamtschule als Regelschule einzusetzen. Die Bildungspolitik traut sich derzeit nicht mehr, Entscheidung zu treffen und durchzusetzen, sondern zieht sich darauf zurück, Prozesse nur noch zu moderieren. Das sieht man am Beispiel G8/G9: Es wird nicht mehr regiert, die Entscheidung wird den Schulen überlassen.

Franke: Da ist die Ressourcenfrage auch zu stellen: Es würde mich mal interessieren, was das kostet, G8 und G9 parallel laufen zu lassen.

Katzenbach: Die Empörung wäre groß, wenn man sagen würde: G8 wäre viel billiger, damit könnte man locker die ganze Inklusion finanzieren.

Franke: Ich würde mir Wahlfreiheit für alle wünschen und eine gute Ressourcenausstattung wie es auch bei G8/G9 möglich ist. Wenn die inklusive Schule gut ausgestattet wäre, wäre ich auch dafür.

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Dieter Katzenbach : Inklusion als Forschungsgegenstand

Foto: Sauter
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Prof. Dieter Katzenbach (55) hat seit dem Jahr 2000 die Professur für „Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Pädagogik und Didaktik in den Fachrichtungen Lernbehindertenpädagogik (Lernhilfe) und Geistigbehindertenpädagogik (Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung)“ am Fachbereich Erziehungwissenschaften der Goethe-Universität inne.

Seine Arbeitsschwerpunkte sind Inklusion in Bildung und Gemeinwesen, Zusammenhänge von kognitiven und affektiven Faktoren in der Genese struktureller Lernstörungen sowie Theorie und Praxis Psychoanalytischer Pädagogik, insbesondere bei Menschen mit geistiger Behinderung. Nach dem Studium der Sonder- und Heilpädagogik absolvierte Dieter Katzenbach in Frankfurt den Aufbaustudiengang Diplompädagogik, 1991 wurde er promoviert.

Von 1992 bis 1994 arbeitete er als Sonderschullehrer an einer Schule für Praktisch Bildbare (Geistigbehinderte) in Wiesbaden, zugleich war er am Hessischen Institut für Lehrerfortbildung sowie am Hessischen Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung (HIBS) tätig. Das Thema Integration hat Katzenbach schon seit vielen Jahren im Blick, entsprechende Schulversuche gibt es in Hessen schon seit rund 40 Jahren – und ebenso lange werden solche Projekte am Frankfurter Institut für Sonderpädagogik beforscht und begleitet.

Von 2008 bis 2013 hat Katzenbach einen Schulversuch „Begabungsgerechte Schule/Inklusion“ im Landkreis Offenbach wissenschaftlich begleitet und evaluiert: Eine Förderschule wurde geschlossen, im Fokus stand die Integration der Kinder in wohnortnahe Schulen. Obwohl selbst aus dem Förderschulwesen kommend, ist er inzwischen überzeugt:

„Der gemeinsame Unterricht behinderter und nicht-behinderter Kinder ist nicht nur machbar, sondern er ist der für alle Beteiligten bessere Weg – wenn die Rahmenbedingungen stimmen.“ Katzenbach setzt sich für eine Pädagogik der Diversität ein, die allen Unterschieden gerecht wird. Eine entsprechende Weiterentwicklung der Lehrerbildung sieht er als dringend geboten. Insbesondere das Einüben eines heterogenitätsgerechten Unterrichts und das Arbeiten im Team würden an allen Schularten immer wichtiger.

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Schulleiterin auf dem 2. Bildungsweg

Foto: Sauter
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Martina Franke (48) ist seit 2011 Leiterin der Johann-Hinrich-Wichern-Schule, unter deren Dach eine Schule mit Förderschwerpunkt Lernen und ein Regionales Förderzentrum vereint sind. Sie selbst kam über den Zweiten Bildungsweg in diesen Beruf:

Die gelernte Floristin mit eigenem Blumenladen studierte Sozialpädagogik und anschließend Lehramt für Förderschulen. „Ich will auch benachteiligten Kindern helfen, ihre Potenziale zu entfalten“, beschreibt sie ihre Motivation. Deshalb habe sie auch durchgesetzt, dass ihre Schüler seit 2012 den Hauptschulabschluss machen können.

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