Der Historiker Ralf Roth über den von ihm herausgegebenen Sammelband, in dem die politische Unterdrückung und ökonomische Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit in Vergangenheit und Gegenwart untersucht wird.
UniReport: Herr Prof. Roth, der Anlass, eine Konferenz zum Thema zu veranstalten (und diesen Sammelband herauszugeben), datiert aus dem Jahre 2017. Selbst Ihre Mitherausgeberin, Frau Aslı Vatansever, war von einer Exilierung betroffen. Wie würden Sie die Ausgangslage damals beschreiben, wie hat es sich seitdem entwickelt?
Ralf Roth: Die Ausgangslage damals bildete eine ganze Reihe von Tendenzen in verschiedenen Ländern und Regionen der Welt, in denen sich die Arbeitsbedingungen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gegenüber den Jahren zuvor verschlechterten. Davon waren und sind ebenfalls die Bedingungen für die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihre Akzeptanz außerhalb der fachspezifischen Kreise der Forscher betroffen.
Das galt und gilt nicht nur für China, Russland und einer zunehmenden Zahl autokratischer Staaten, sondern auch für einige Länder in Osteuropa, Länder des Nahen Ostens und der arabischen Welt, und selbst für einige Kernländer des Westens. Dramatisch entwickelte sich der Verfall in der Türkei mit ihren bedeutenden Hochschulen und Universitäten, die seit vielen Jahren einer politisch motivierten Repression unterliegen, die mit den Ereignissen von 2016 kulminierte und zum Ausschluss sowie zur Zwangsmigration und Exilierung tausender von Wissenschaftlicher geführt haben. Auch meine Mitherausgeberin Aslι Vatansever musste ihre erfolgreiche akademische Karriere aufgeben und den Weg ins Exil antreten, nachdem sie politisch verfolgt wurde und alle erworbenen Sozialversicherungsansprüche verlor, weil sie sich mit hunderten anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gegen die zunehmende Repression gewehrt hatte. Sie teilt seitdem das harte Brot der Exilierten. Dabei war es gerade die Istanbul Universität gewesen, die 1933 Frankfurter Wissenschaftler, die von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben worden waren, Aufnahme gewährt hat wie zum Beispiel dem Ophtalmologen Josef Iggersheimer – und zwar teilweise großzügiger als dies heute umgekehrt der Fall ist.
Gegen alle diese – einer aufgeklärten Welt unwürdigen – Tendenzen entfaltete sich ausgehend von den USA in den Jahren 2017 und 2018 die internationale Protestbewegung der sogenannten „Marches for Science“, u. a. auch hier in Frankfurt. Frau Vatansever hat damals die Initiative ergriffen, das Thema im Herausgeberkreis der Zeitschrift für Weltgeschichte aufzugreifen. Daraus ging mit Unterstützung des Exzellenzclusters „Normative Orders“ und auch des Kulturamtes der Stadt Frankfurt die Konferenz vom November 2018 hervor, deren Ergebnisse wiederum in dem Sammelband dokumentiert sind.
Das Thema ist leider noch genauso virulent und aktuell wie damals, wobei „genauso“ expressiv verbis – auch wenn es in den USA mit dem Regierungswechsel Lichtblicke gibt – eigentlich falsch ist, weil die Tendenzen leider in den meisten Ländern keine Trendumkehr erfahren haben, sondern sich eher in die wissenschaftsfeindliche Richtung weiterentwickelt haben.
Wie hat sich beispielsweise die Corona-Pandemie auf die Lage der Wissenschaften ausgewirkt?
Ich würde nicht sagen, dass die Pandemie derzeit das Hauptproblem bildet. Sie behindert sicher die für Forscher wichtige soziale Interaktion. Sie schränkt ebenso zahlreiche Forschungsprozesse ein, erschwert die Lehre und verlangsamt die Fortschritte im wissenschaftlichen Diskurs und in der Verbreitung der Erkenntnisse. Davon ist aber die Freiheit, dem ganzen Spektrum an offenen Fragen nachzugehen, erst einmal kein unüberwindliches Hindernis entgegengesetzt. Ich halte die politisch und ideologisch motivierten Pressionen nach wie vor für das dringlichere Problem. Zumal ja die Wissenschaft bereits Instrumente zur Einhegung der Pandemie an die Hand gegeben hat. Doch führt das Thema Repression und Intransparenz durchaus auch zur Pandemie, insofern wegen staatlicher Vorbehalte und fehlender Wissenschaftsfreiheit die Weltöffentlichkeit über die Ursprünge der Pandemie immer noch im Dunkeln tappt. Solange das so ist, kann die medizinische Bekämpfung nur mit halber Kraft operieren.[1]
Wie in Ihrem Sammelband dargestellt wird, reichen die Angriffe auf Wissenschaft und Wissenschaftler*innen bis weit ins 18./19. Jahrhundert zurück. Handelt es sich damit bei den aktuell zu beobachtbaren Phänomen also im Prinzip um eine Dauerkrise der Wissenschaftsfreiheit? Oder gibt es Anlass, die aktuellen Entwicklungen mit besonderer Sorge zur Kenntnis zu nehmen?
Ich würde nicht von einer Dauerkrise der Wissenschaften in unseren wissensbasierten Gesellschaften sprechen. Von Dauer ist sicher der fragile Zustand zwischen Tendenzen zur Verbesserung der Forschungs- und Arbeitsbedingungen von Wissenschaftler*innen auf der einen Seite und auf der anderen ihren Verschlechterungen – wie dies für alle Freiheiten im Umkreis der Menschenrechte gilt. In der Geschichte kennen wir aber nicht nur Krisen, sondern ebenso längere Perioden der Verbesserung und Ausweitung der Freiheiten in und für die Wissenschaften und mit ihnen oftmals auch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das ist m. E. seit der Aufklärung in der westlichen Welt immer noch die Haupttendenz, trotz aller Rückschläge, die gerade hier in Deutschland nicht unbekannt sind. Den Konjunkturen im Ausbau der Universitäten und dem Aufbau zahlreicher Forschungsinstitute sowie einer komplexen Wissensinfrastruktur stehen unfassbare Abgründe gegenüber, in denen Obskurantismus, Pseudolehren, ja, geradezu Wahnvorstellungen die deutsche Gesellschaft fest im Griff hielten. Wissenschaftler, ob gerade am Beginn einer Karriere oder Gelehrte von internationalem Ruf, wurden in großer Zahl vertrieben. Die Wissenschaften verfielen in wenigen Monaten und Gelehrte mit großer Expertise stellten sich in den Dienst einer verbrecherischen Rassenpolitik. Viele machten danach einfach weiter, als sei nichts geschehen – war doch nur von kurzer Dauer der Zivilisationsbruch. Nicht zuletzt deshalb laboriert die deutsche Gesellschaft noch heute an diesen Jahren der Vertreibung und des kulturellen Verfalls. Aber die Exilierten kamen (zu einem Teil) zurück und haben nach dem Krieg vielfach zu einer umso größeren Dynamik in der Entfaltung der Wissenschaften beigetragen.
Nein, wir können uns nicht auf der Einschätzung, Wissenschaft sei immer in der Krise, ausruhen, sondern müssen die gegenwärtigen Tendenzen mit Sorge und hoher Aufmerksamkeit betrachten und der Stimme der Wissenschaft wieder zu mehr Beachtung in der Öffentlichkeit verhelfen. Die massiv in den politischen Diskurs einbrechenden Irrationalismen, Mythenbildungen, Verschwörungstheorien, schlichte Unwahrheiten und Lügen sind ein Menetekel, gegen die letztendlich nur Aufklärung im besten Sinne des Wortes hilft.
Wie würden Sie Wissenschaftsfreiheit definieren? Was muss dafür gewährleistet sein, dass Wissenschaft und Wissenschaftler*innen ungefährdet forschen und veröffentlichen können?
Die Wissenschaftsfreiheit ist ein Teil der Menschenrechte und steht im Kontext der Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit sowie dem Anspruch allgemeiner politischer Partizipation. Hier ist also der Rahmen, den John Stuart Mill in Über die Freiheit als Kennzeichen einer freien Gesellschaft skizziert hat, immer noch von zentraler Bedeutung. Freiheit ist immer ein Ideal, das in der Realität wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Grenzen und Beschränkungen unterliegt. Solange an der Aufhebung der Beschränkungen oder Erweiterung dieser Grenzen gearbeitet wird, ist Mann und Frau auf dem richtigen Weg. Die Strafbarkeit von Ansichten und Meinungen, die es auch bei uns gibt, muss auf Mindestmaß beschränkt und aus einem wirklich starken Grund heraus erfolgen. Das ist bei Mill der Schaden, der anderen dabei entsteht. Wir in Deutschland haben die Leugnung des Holocausts und die Verwendung der Symbole des verbrecherischen Systems, das zwischen 1933 und 1945 Deutschland in den Untergang geführt hat, unter Strafe gestellt. Man kann darüber diskutieren, ob die Gesellschaft reif ist, ohne dieses Verbot auszukommen, wie das in anderen europäischen Ländern oder der USA der Fall ist. Auf jeden Fall muss eine wissenschaftliche Positionierung immer begründet, nachvollziehbar und transparent sein. M. E. sollte eine wissensbasierte Gesellschaft mehr Wert auf die Schwierigkeiten der Erkenntnisbildung legen und Erkenntnisphilosophie bereits in der Schule vermitteln. Kritische Reflexion und der steinige Weg der Urteilsbildung können gar nicht früh genug beginnen. Dann wird es auch schwieriger, den Menschen die Freiheit des Denkens wieder zu nehmen.
Sie selbst untersuchen in einem Beitrag die Flucht und Vertreibung der deutschen Soziologie während des Nationalsozialismus. Dabei haben Sie sich nicht auf die bekannte(ere)n Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, sondern auf Frederic Pollock fokussiert. Was war der Grund dafür, was sind Ihre Erkenntnisse?
Pollock steht seit vielen Jahrzehnten im Schatten von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Rolf Wiggershaus hat seit vielen Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass dies eigentlich zu Unrecht der Fall ist. Gerade Pollock und Horkheimer verband eine enge und außergewöhnlich tiefe Freundschaft. Sie teilten sich sogar viele Jahre eine gemeinsame Bibliothek und hatten ein gemeinsames ex libris. Das geht soweit, dass die Nachlässe beider in der StUB gemeinsam verzeichnet sind, weil das Werk schlicht nicht zu trennen ist. In der Studie von Philipp Lenhard, die 2019 erschienen ist, wird dem endlich Rechnung getragen.[2] Ich selbst kam auf Pollock bereits in meiner Studienzeit und zwar über seine Studien zur Sowjetunion und über die Schrift Automation, die ich in Rationalisierungsarbeitskreisen der IG Metall und des DGB in den 1980er Jahren rezipiert habe. Nach Jahrzehnten der Bekanntschaft kam ich aber erst im Zuge meines Forschungsprojekts zur „Geschichte der Digitalisierung der Arbeitswelt“ auf die viel tiefere Bedeutung dieses Werkes, die für die Herausbildung der Nachkriegssoziologie immer noch unterschätzt wird. Pollock bildete mit seiner Studie ein nicht unwesentlicher Teil des transatlantischen Technologietransfers, der ab den frühen 1950er Jahren die deutsche Wirtschaft wiederbelebte, um im beginnenden Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion das wirtschaftliche Fundament und die Ressourcen des westlichen Lagers zu vergrößern. Darin liegt einer der wesentlichen Gründe, warum ein Teilstück des Deutschen Reiches nur fünf Jahren nach einer vernichtenden Niederlage so rasch wieder auf die Füße kam, dass von einem Deutschen Wirtschaftswunder gesprochen wird. Die Wahrheit liegt jedoch eher in dem Umstand, dass die USA ihr überlegenes technologisches Wissen fast eins zu eins teilten. Kernstück davon bildete die Automation vieler Produktionsvorgänge mit Hilfe von Rechenmaschinen. Darüber handelt die Arbeit von Pollock und er hat die Gewerkschaften darüber informiert und sie mit den wesentlichen Elementen des neuen Schubs in der Industrialisierung vertraut gemacht. Sie haben seine Studie ernst genommen, sich in besonderen Abteilungen damit auseinandergesetzt und Strategien entwickelt bis hin zu den großen Experimenten einer „Humanisierung der Arbeitswelt“ in den 1970er und 1980er Jahren. Auf diese Weise wurde der Einzug des Computers in die Arbeitswelt nicht nur von dem Management der Konzerne bestimmt, sondern auch von den Gewerkschaften mitgestaltet. Das Institut für Sozialforschung hat genau dies mit seinen Forschungen zur Industrie- und Arbeitssoziologie theoretisch untermauert. Von Dialektik der Aufklärung Horkheimers und Adornos hat in den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik niemand gesprochen.
In den Beiträgen Ihres Buches geht es nicht nur um die politische Unterdrückung seitens autoritärer Systeme, sondern auch um die ökonomische Gefährdung des Wissenschaftsbetriebes. Warum ist es Ihrer Ansicht nach erforderlich, diese beiden doch so unterschiedlichen Aspekte zusammen zu betrachten?
Neben den politischen Freiheiten kommen auf jeden Fall noch weitergehende ökonomische und soziale Freiheiten hinzu, die zu beachten sind. Lehre und Forschung gibt es nicht zum Nulltarif, sondern sie bedürfen zu ihrer Praxis Orte, Gebäude, Sachmittel, zuweilen viel und teure Technologie – und last but not least Menschen, und zwar Menschen mit langen Ausbildungszeiten, was per se ein hoher gesellschaftlicher Kostenfaktor ist. Reiche Gesellschaften sollten sich überlegen, ob sie einen so hohen Teil ihrer Hochqualifizierten ein Leben lang unter völlig unzureichenden Arbeitsbedingungen fristen lassen. Ein akademisches Prekariat ist ein Luxus, den sich nur wenige Gesellschaften in der Welt leisten können. Die damit verbundenen halbfeudalen oder patriarchalischen Abhängigkeiten sind einer aufgeklärten Gesellschaft unwürdig.
Als weiteren Punkt würde ich unbedingt anmerken, dass in Zeiten, in denen alle Welt von Diversifizierung in allen Ebenen der Arbeitswelt spricht, sich der Kreis der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlicher immer noch aus einem viel zu engem sozialen Umfeld und aus viel zu wenigen sozialen Aufsteigern rekrutiert. Die Zugänge aus Haushalten von Arbeitern und Angestellten mit geringem Einkommen könnten nach Jahrzehnten des Bildungsdiskurses endlich zunehmen und die Prozentanteile im einstelligen Bereich merklich anheben. Das wäre auch ein Beitrag zur Demokratisierung und nicht zuletzt zur breiteren Akzeptanz von Wissenschaft in der Gesellschaft. Solange der Wert von Wissenschaft vor allem in Akademikerhaushalten oder den sowieso Begünstigten seine Anerkennung findet, ist umgekehrt die Vorstellung von einer geheimen und verborgenen Welt der Orte, an denen Wissen auf geheimnisvolle Weise entsteht, vorhanden. Das ist für eine Wissensgesellschaft ein unhaltbarer Zustand. Das ist der entscheidende Grund, warum ich mich als Arbeiterkind bei Arbeiterkind.de engagiere – ein großartiges Netzwerk zur Förderung derjenigen, die zum ersten Mal in ihren Familien studieren.
Ihr Buch trägt im Titel auch die „intellectual resistance“; wie schätzen Sie denn generell die Chancen ein, dass sich Wissenschaftler*innen gegen staatliche Unterdrückung und Einschränkungen erfolgreich wehren können? Und wie?
Für einen Erfolg gibt es keine Patentlösung. Aber sie können Vorbild sein, über den engen Bereich ihrer Expertise hinaus. Sie können sich in die politischen Bewegungen und Auseinandersetzungen einmischen wie Frau Vatansever und ich es mit der Konferenz und dem Buch gerade machen. Wenn es hart auf hart kommt, können sie gehen. Das findet sowieso in einem großen globalen Umfang statt – freiwillig und unfreiwillig – und trägt zum Zusammenwachsen der Weltgesellschaft bei. Letztendlich sollte es jedoch für jede Gesellschaft ein Alarmzeichen sein, wenn die besten Köpfe gehen. Russland hat sich von dem braindrain, der den ereignisreichen Jahren 1917ff. folgte, nie erholt. Die fehlende Freiheit der Wissenschaften hängt wie ein Mühlstein um den Hals der russischen Gesellschaft und hindert es Russland, seinen Reichtum, über den es zweifelsohne verfügt zum Nutzen und Wohlstand aller zu erschließen. Die gegenwärtige Tendenz, sozusagen als Ersatz die wenigen Nischen im System als Orte der Freiheit hoch zu stilisieren, wie wir dies auch in unserem Sammelband am Beispiel des Systems der „Sharyska“ unter Stalin dokumentiert haben, verdeckt nur das Misstrauen, das von den russischen Autokraten – denen des 20. wie denen des 21. Jahrhunderts -unabhängigen und freien Wissenschaftlern entgegengebracht wird. Die Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen ist in Russland bis heute unmöglich. Russische Wissenschaftler machten und machen deshalb Karriere in Europa und noch viel mehr in den USA wie die Exilierten aus Europa in der Zeit der autoritären Staaten auch – Albert Einstein, um nur einen Namen zu nennen. Der Aufstieg der USA im 20. Jahrhundert ist eine einzige Erfolgsgeschichte des braingain, also des Einsammelns der Davongelaufenen.
Das amerikanische Universitätssystem hat das von Anbeginn an kultiviert. Ich habe das persönlich einmal auf einer Konferenz in Delhi erlebt, wie ein amerikanischer Kollege sah, wie viele gut ausgebildete Inder dort versammelt waren. Er hat daraufhin eine Initiative mit seiner und mehreren anderen amerikanischen Universitäten gestartet und sie haben per Stipendienprogramme nicht weniger als 600 dieses Nachwuchses an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in die USA geholt. Thematisch ging es um den Bereich Stadt- und Verkehrsplanung und -infrastruktur. Er war ziemlich stolz, als er mir das ein paar Jahre später bei einem anderen Treffen erzählte, und er konnte es sein.
Wie auch immer, in Deutschland können sich Wissenschaftler frei artikulieren und sie können Reformen des Systems und die Verbesserung der Verankerung der Wissenschaft in der Gesellschaft einfordern – und sie tun das ja auch.
In Deutschland wird seit einigen Jahren auch an den Universitäten über die geeignete Diskussionskultur gestritten. Schlagwörter wie ‚Cancel Culture‘ werden dabei bemüht, um einen Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit gewissermaßen ‚von links‘ zu beschreiben. Dies wird wiederum von vielen Stimmen bestritten. Wie würden Sie diese Debatte einordnen – gibt es da Anknüpfungspunkte zu den von Ihnen behandelten Aspekten oder handelt es sich um eine andere Debatte?
Ich mache es kurz. Wer Diskussionen auch mit falschen und politisch gefährlichen, weil populären Ideologien per Verbot unterbindet, wird auf Dauer faul und träge im Kopf und verrät auf diese Weise die Sache der Wissenschaft vom Grundsatz her, weil zugelassen wird, dass nicht mehr das überzeugende Argument und das bessere Wissen zählt, sondern der Glaube an ein Dogma, neben dem etwas anderes keinen Platz haben darf. Wissenschaft benötigt Positionierung und man sollte seine Überzeugungen auch gegen Unwillen und Unmutsbezeugungen verteidigen. Wir leben zudem in einem Rechtsstaat und wenn in Diskursen Gewalt angedroht wird, bietet dieser auch auf Anforderungen Schutz. Es gibt in Deutschland Verbote, wenn auch wenige, wenn die Freiheiten anderer eingeschränkt werden. Aber derartige Gesetze sind letztendlich immer nur Krücken und sollten eher eingeschränkt als ausgeweitet werden. Statt einer cancel culture wäre ich für eine convince culture.
Fragen: Dirk Frank
Ralf Roth ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Goethe-Universität Frankfurt. Aslı Vatansever ist Arbeitssoziologin; sie ist assoziierte Forscherin am Institut Re:Work der HU Berlin.
[1] Philipp Lenhard, Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2019.
[2] Dazu aktuell in der New York Times: Where Did the Coronavirus Come From? What We Already Know Is Troubling. https://nyti.ms/3xOXC3q (26-6-21).
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 4/2021 (PDF) des UniReport erschienen.