Wissenschaftsstadtplan erklärt das Leben und Wirken von Forschern

Was Westendvillen zu erzählen haben; Foto: Dettmar
Was Westendvillen zu erzählen haben; Foto: Dettmar

Der Wissenschaftsstadtplan der Goethe-Universität will das Leben und Wirken von 34 Forschern und Forscherinnen sichtbar machen.

Siebenmal schon konnten Mitarbeiter der Goethe-Uni bei zweistündigen Führungen mehr darüber erfahren, wo der Frankfurt sehr verbundene Adorno wohnte und wo er Marie-Luise Kaschnitz nebst Gatten besuchte.

36 Grad, es wird immer heißer, aber Björn Wissenbach ist unermüdlich. Der Historiker und Städtebauer scheint alles zu wissen über die wechselvolle Geschichte der Goethe-Universität, ihrer Forscher und der Gebäude, in der sie lebten. Er erzählt lebhaft, engagiert, bringt persönliche Wertungen mit ein und hesselt immer wieder gern. Bunter kann eine Stadtführung über lauter Verstorbene kaum sein.

An diesem heißen Nachmittag konzentriert er sich auf das Westend und die Verquickung seiner früheren Bewohner mit der Universität. Start ist am Jügelhaus, der Keimzelle der Universität. »Das Mannheimer Schloss diente als Vorbild«, verrät er, »als Bürger und Stifter aus der Industrie hier bereits 1904 die Akademie für Handels- und Sozialwissenschaften eröffneten.« Die offizielle Hochschulgründung zehn Jahre später habe dann alles zusammengefasst, was in Frankfurt schon an Wissenschaft und Lehre vorhanden war – neben der Akademie auch den botanischen Garten, das Bürgerhospital bis hin zu Senckenberg-Stiftung.

Auch zum benachbarten Studierendenhaus anno 1953 kann er etwas erzählen, was sicherlich für manche Uni-Angehörigen neu ist: »Das Gebäude wurde mit Mitteln der amerikanischen Regierung erbaut, die damit als Besatzer die Re-Education der deutschen Studierenden unterstützen wollten. Hier sollten sie lernen, sich selbst zu verwalten.« Ohne die Fürsprache der Amerikaner hätte das Land Hessen nach dem zweiten Weltkrieg Frankfurt vielleicht als Hochschulstandort aufgegeben, »es gab ja schon Marburg, Gießen und Darmstadt.«

Wenige Schritte später, in der Senckenberganlage, kommt Wissenbach schon auf die »Promis« unter den Frankfurter Professoren zu sprechen: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: »Die Nazis hatten ihnen schon lange ihr schönes, expressionistisch anmutendes Gebäude an der Bockenheimer Landstraße weggenommen. Nach dem Exil bekam das Institut für Sozialforschung daher ein neues Gebäude in der Senckenberganlage.«

Daneben stand die pompöse Villa des großzügigen Stifters des ersten Lehrstuhls für Soziologie und des Instituts für Nordamerikakunde, Karl Kotzenberg. »Er wurde als Gönner der Universität nie in dem Maße gewürdigt wie etwa Wilhelm Merton, weil er homosexuell war, was damals ja strafbar war«, fasst Wissenbach seine Einblicke zusammen. Viele Westend-Villen seien der Uni damals »zum Besten der Stadt« geschenkt worden. Manchmal hätten den Besitzern nach den Kriegen auch schlicht die Mittel gefehlt, um die Gebäude selbst instand zu setzen und zu unterhalten.

Vorbei geht’s am Elternhaus des Physikers Hans Albrecht Bethe, der eine jüdische Mutter hatte, daher zu Zeiten des Nationalsozialismus in die USA emigrierte und mit Oppenheimer an der Entwicklung der Atom- und Wasserstoffbombe arbeitet. »Später will er damit nichts mehr zu tun haben und wird – leider zu spät – Pazifist«, sagt Wissenbach.

Im Kettenhofweg 123 lebte Theodor W. Adorno, der eigentlich Theodor Ludwig Wiesengrund hieß, aber einen Namen seiner Mutter, der Sängerin Maria Calvelli-Adorno, annahm. Der Soziologe und Philosoph wurde zu einem der einflussreichsten Intellektuellen Westdeutschlands. »Er sprach wirklich druckreif, war auch oft im Radio zu hören und dadurch sehr bekannt.« Zeitweise wurde er als Ikone der Studentenbewegung gefeiert, weil er als einer der wenigen Professoren den Studierenden zuhörte. Zuletzt sah er sich jedoch im Konflikt mit radikalisierten Studenten einerseits, die ihm Praxisferne vorwarfen, und konservativen Kollegen andererseits, die ihn für die Jugendrevolte verantwortlich machten.

In der Westendstraße 95 berichtet Wissenbach wenig später vom Althistoriker Matthias Gelzer, der »als Schweizer mit Schweizer Pass eigentlich zu Zeiten des Nationalsozialismus zurück in die Heimat hätte gehen können.« Er aber blieb und arbeitete an der völkisch-hierarchischen Entwicklung Europas. »Da hat man mal so ein Beispiel von jemandem, der kräftig mitmischte, aber bis 1955 Professor blieb.«

Max von Laue gehörte nicht nur zu den zu den ersten Professoren der Universität, sondern auch zu den ersten prominenten Forschern, deren Haus schon eine Gedenktafel schmückt. Im Rahmen des von der Stiftung Polytechnische Gesellschaft geförderten Jubiläumsprojektes Wissenschaftsstadtplan sollen immer mehr Gedenktafeln an die wichtigsten »Köpfe« der Goethe-Universität der vergangenen 100 Jahre erinnern.

Ziel ist es, Frankfurt als Wissenschaftsstadt im Bewusstsein der Bürger und Besucher besser zu verankern 1914 wurde von Laue für seine Forschung über Röntgenstrahlen der Nobelpreis für Physik verliehen, im gleichen Jahr wurde er auf den Lehrstuhl für theoretische Physik der neu gegründeten Universität Frankfurt am Main berufen. Fünf Jahre bleibt er, dann geht er nach Berlin, wo Albert Einstein zu der Zeit forscht.

Der Spaziergang führt an der kleinen Christuskirche in der Beethovenstraße vorbei, die bei genauem Hinsehen sehr an Vorbilder aus Großbritannien oder aus der Normandie erinnert. »Das Englische war zu Zeiten der Unigründung schwer in Mode«, weiß Wissenbach. Bürger mit Töchtern im heiratsfähigen Alter luden gern mal männliche Studierende zum Essen ein, denen dann Etageren mit Frankfurter Kranz, Bethmännchen und Gurkensandwiches nach britischer Art gereicht wurde. »Einmal durfte man sich durch alles durchprobieren, aber wer öfter zulangte, galt als disziplinlos.«

Es scheint, als sei Wissenbachs Vorrat an Anekdoten unerschöpflich. Tatsächlich liebt er die »Frankfurter Stadtteile mit Gesicht« und bietet im Reigen der Frankfurter Stadtevents des Stadtmagazins Journal Frankfurt (frankfurter-stadtevents.de) auch zahlreiche weitere Themenführungen an.

Für die Zuhörer wird es irgendwann schwierig, die Wissenschaftler alle einzusortieren und auseinanderzuhalten. Doch bevor die Führung beim IG-Farben-Haus endet, stoppt die Gruppe noch einmal vor einem Haus in der Wiesenau, in dem die Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz von 1940-55 lebte. Ihr Mann, Guido Kaschnitz von Weinberg, war Archäologie-Professor an der Universität und galt als Spezialist für griechische Vasenmalerei. Sie selbst kam erst in den 60er Jahren als Gastdozentin mit der Uni beruflich in Kontakt.

Mit der ersten Mathematikprofessorin Deutschlands, Ruth Moufang, endet der Blick in die Biographien Frankfurter Wissenschaftler an diesem Tag. Die habilitierte Mathematikerin ist ein Beispiel für die Benachteiligung weiblicher Wissenschaftler in den 30er und 40er Jahren. »Sie ist Professorin ohne Erlaubnis, lehren zu dürfen. Als sie einmal offiziell zu einer Veranstaltung auf der Mainau reist, um die Universität zu vertreten, wird ihr stattdessen die Teilnahme am Damenprogramm nahegelegt.« Moufang versucht ihr Glück in der Wirtschaft und leitet dort das Forschungslabor von Krupp. »Nach dem Krieg soll sie an der Uni den Bereich Mathematik wieder mit aufbauen, kommt aber nicht hoch. Kriegt wieder nur ein Dozentengehalt«, berichtet Wissenbach, der zur Vorbereitung der Führung auch eifrig Personalakten im Archiv studierte.

Für alle, die sich für die Geschichte der Uni interessieren, für die Frankfurter Forscher und ihren Einfluss auf Wissenschaft und Stadtgeschehen – für die ist die Führung ein Muss. Das Ablaufen auch weiterer wichtiger Stationen geht ebenfalls im Alleingang – wenn man gut zu Fuß ist. So führt der Weg zu dem Haus von Friedrich Dessauer nach Sachsenhausen, Otto Stern zog die Aderflychtsstraße im Nordend vor. Der bekannte Physiker schrieb in Frankfurt von 1918 bis 1921 Physikgeschichte. [Autorin: Julia Wittenhagen]

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