Tatort – ein Medienphänomen zwischen Wirklichkeit und Fiktion

Bild: ARD/SF DRS/ORF
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Retro zum Jubiläum: »Taxi nach Leipzig« – die 1000. Folge des »Tatort« heißt wie die Erste. Seit 46 Jahren begleiten die vertraute Titelmelodie und die eisblauen Augen im Vorspann den TV-Zuschauer. »Tatort« ist Kult. Die Frankfurter Bürger-Universität nimmt das Phänomen »Tatort« ins Fadenkreuz ihrer Diskussionsreihe »Tatort-Forschung«.

Mehr Statement geht kaum: »Der ›Tatort‹, das hat etwas Religiöses. Der ›Tatort‹ ist das säkularisierende ›Wort zum Sonntag‹«. Wenn Liane Jessen über den »Tatort« spricht, klingt sie geradezu enthusiastisch. Die Spielfilme-Chefin des Hessischen Rundfunks verantwortet die Tatort-Folgen des Regionalsenders. Mit großem Erfolg: für den »Tatort« »Im Schmerz geboren« erhielt sie 2015 den Grimme-Preis. Jessen lotet mit ihrer Redaktion gerne mal die Grenzen von TV-Fiktion aus.

Haben Sie ein Alibi?

Die Deutschen lieben ihren »Tatort«. Deutlich mehr als 10 Millionen Zuschauer lockt die Serie jeden Sonntag vor den Fernseher. Es ist ein erstaunlicher Erfolg. Galt der Krimi doch lange als Fossil, als »Opa-Fernsehen«. Die Handlungen sind vorhersehbar. Ein Mord, Ermittler, Rätsel, ein paar Wirrungen und am Ende immer die Auflösung. Die Aufklärungsquote liegt bei fast hundert Prozent. Nichts Aufregendes. Eigentlich. Und trotzdem ist der »Tatort« Kult. Freunde werden eingeladen. Gemeinsames Fernsehen ist wieder angesagt. Am Montagmorgen im Büro ist der »Tatort« das verbindende Gesprächsthema. »Menschen mögen Rituale, vor allem solche, die wie der ›Tatort‹ Sehnsüchte bündeln«, sagt Liane Jessen.

»Tatort« stiftet Gemeinschaft

Das Medienphänomen »Tatort« interessiert auch die Wissenschaft. »Der Erfolg ist vor allem ein crossmedialer«, davon ist Julika Griem überzeugt. Die Frankfurter Professorin für
Anglistische Literaturwissenschaften an der Goethe-Universität beobachtet, dass die Medien den Hype um den »Tatort« maßgeblich befeuern. Der Krimi wird in allen großen Leitmedien besprochen. »Zeit«, »FAZ«, »Süddeutsche Zeitung« und sogar die linksalternative Berliner Tageszeitung »taz« kommentieren die Sendungen.

[dt_quote type=”pullquote” font_size=”h4″ background=”fancy” layout=”right” size=”2″]»Der ›Tatort‹ bildet das gesamte Leben der BRD ab.« Liane Jessen, hr-Fernsehspielchefin[/dt_quote]

Während der Ausstrahlung bewertet »Spiegel-Online« Handlung oder Leistung der Schauspieler. Auf Facebook bereitet seit wenigen Wochen die »Tatort-Show« den eigentlichen Krimi nach. Der Hype um den »Tatort« existiert seit ungefähr 10 Jahren. Damals lehrte die WM 2006 den Deutschen das »public viewing«, gemeinschaftliches Fernsehen auf Marktplätzen, in Stadien, in Kneipen. Kurz danach löste der »Tatort« die Fußball-Übertragungen in den Gaststätten ab. Nun war es der ARD-Krimi, der den Gemeinsinn beflügelte.

»Tatort« ist Aufklärung

Der Kriminalfall selbst ist immer häufiger Nebensache. Vielmehr bekommt der Zuschauer die großen gesellschaftlichen Themen erklärt. Ob Finanzkrise, Familienstreitigkeiten, Verlust des Arbeitsplatzes, Ehedramen, Flüchtlinge – immer geht es um Schuld, Verantwortung, Gerechtigkeit. »Der ›Tatort‹ bildet das gesamte Leben der BRD ab«, sagt Liane Jessen. Einfach alles werde beleuchtet, »von der Intersexualität über Rechtsextremismus bis hin zum Afghanistan-Einsatz«. Seit Beginn der Reihe spiegeln die meisten Fälle die Lebenswelt der Zuschauer wider.

Das haben die Tatort-Erfinder 1970 so festgelegt. Die Krimi-Serie habe damit einen großen volkspädagogischen Ansatz, sagen Julika Griem und Liane Jessen übereinstimmend. »Der ›Tatort‹ erklärt mir die Welt an dem Punkt, an dem ich selbst stehe«, so die hr-Spielfilmchefin. Nachfolgende TV-Sendungen nehmen diese Themen auf und bereiten sie nach. Am Sonntagabend erhält der Zuschauer für kurze Zeit Orientierungshilfe in einer immer »komplexer werdenden Welt. »Der ›Tatort‹ ermöglicht eine Art von Katharsis.« Liane Jessen bescheinigt dem TV-Krimi dramatische Größe.

»Tatort« im Zeitenwandel

Zur Tragödie im Stile eines griechischen Dramas reiche es dem »Tatort« nicht, sagt dagegen Julika Griem. Katharsis, Läuterung kann sie nicht erkennen. Dafür ist der deutsche Fernseh-Krimi zu bodenständig. Auch verglichen mit den amerikanischen Serien wie »CSI Miami« oder CSI Las Vegas« komme der »Tatort« daher wie deutsche Hausmannskost. Als cool würde etwa den »Tatort Konstanz« oder »Tatort Hannover« niemand bezeichnen, auch wenn sich die Drehbuch-Autoren in Maßen die Erfolgsrezepte amerikanischer Serien borgten: »So aufwendig wird der ›Tatort‹ nicht produziert«, sagt Julika Griem. Als Literaturwissenschaftlerin interessiert sie vor allem, wie sich der »Tatort« erzählerisch weiterentwickelt hat.

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Gemeinsam mit dem LKA Wiesbaden veranstaltet die Goethe-Universität im Rahmen der Bürger-Uni die Reihe »Tatort-Forschung«: Im Wintersemester geht es an vier Abenden um die beliebte »Tatort-Reihe«, aber auch um neueste Erkenntnisse aus der Kriminologie und Forensik.
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Da ist viel passiert in 46 Jahren. Biedere Figuren wie der Stuttgarter Kommissar Bienzle haben ausgedient. Die jüngeren Nachfolger sind körperlicher, privater, psychologisch differenzierter gezeichnet. Und es gibt mehr weibliche Kommissare. Neu ist auch, dass sich Geschichten über zwei bis drei Folgen ziehen. »Horizontal erzählt« nennt sich das und ist gerade en vogue. Verändert haben sich auch die Bildsprache, Musik, Schnitt. »Heute gibt es viel mehr bewegte Kamera«, ergänzt Liane Jessen. Bestand haben der alte Trailer und die Gesetzmäßigkeiten des Films: Realistisch ist der »Tatort« nur im Subtext. Film lebt von der Zuspitzung. Der Zuschauer will schließlich unterhalten sein.

Regionalität ist Erfolgsgarant

Berlin – Brandenburger Tor, Hamburg – Landungsbrücken, Frankfurt – Bankentürme: Die Fernsehzuschauer lieben den Wiedererkennungswert. Regionalbezug lautet das Zauberwort. »Das Genre arbeitet mit einem wahnsinnigen identifikatorischen Effekt«, stellt Literaturwissenschaftlerin Griem heraus. »Die Leute haben ein ganz großes Bedürfnis, innerhalb der globalisierten Welt sich zu erden, einen Anker zu suchen. Den finden sie auch in der Identifikation mit ihrer Stadt.« Formate mit Heimatflair boomen. Im besten Falle polieren sie sogar das Image einer Stadt auf. Stuttgart etwa.

Mit dem neuen Ermittler-Team inszeniert sich nach Bienzles Abgang die Stadt als moderne Metropole. Die Stuttgarter wollten weg vom behäbigen Spätzle-Image. Standort-Faktor »Tatort«. »Das Fremde im Bekannten suchen«, nennt es Liane Jessen. In den »Tatort «-Folgen des hr sei deshalb viel Frankfurt drin. Die Bankenstadt biete sich für Krimis geradezu an: »Sie sitzen gemütlich unten in einer Apfelweinwirtschaft und schauen nach oben in die Hölle, in die Türme von Babel.« Wenn die Kommissare Anna Janneke und Paul Brix an der Reihe sind, wird auch mal das Bankenviertel zum Drehort. Seit den 70-er Jahren gehört der »Tatort« zu Frankfurt. Geht es nach Liane Jessen, wird das auch ewig so bleiben.

Autorin: Heike Jüngst

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Dieser Artikel ist in der Ausgabe 34 des Alumni-Magazins Einblick erschienen.

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