Wenn Eminenz wichtiger als Evidenz ist

Der diesjährige Goethe-Medienpreis geht an drei SZ-Journalisten, die den spektakulären Fall eines fehlerhaften Papers im Bereich der Hirnforschung aufgeklärt haben.

Patrick Illinger (l.) und Till Krause. Fotos: privat

Die drei Journalisten Patrick Bauer, Patrick Illinger und Till Krause sind für das Süddeutsche Zeitung Magazin in einer tiefschürfenden Recherche dem Fall des Tübinger Professors Niels Birbaumer nachgegangen, der behauptete, die Gedanken von unheilbar an der Nervenkrankheit ALS leidenden Patienten entschlüsseln zu können. Dabei traten jedoch immer größer werdende Unstimmigkeiten zwischen Datenlage und öffentlichen Erfolgsmeldungen auf. Insbesondere die Daten, auf denen die vermeintlichen Forschungsergebnisse basierten, konnten bei Nachprüfungen von anderen Experten nicht nachvollzogen werden. Die Jury des Goethe-Medienpreises erkannte dieser auch journalistisch herausragend umgesetzten Arbeit den 1. Preis zu. Mit zwei Journalisten des Teams, mit Dr. Till Krause und Dr. Patrick Illinger, konnte der UniReport vor der Preisverleihung sprechen.

UniReport: Herr Krause, Herr Illinger, welche Reaktionen haben Sie auf Ihren Artikel hin erhalten, kamen auch welche aus der Wissenschaft?

Till Krause: Wir haben sehr viel positive Reaktionen bekommen. Gelobt wurde vor allem, dass wir uns in ein Thema so tief haben einarbeiten können und die Bedenken eines Whistleblowers ernst genommen haben. Aber auch der Mut des Whistleblowers wurde bewundert, der ja quasi im Alleingang dem Wissenschaftler entgegengetreten ist und somit Schwachstellen im Wissenschaftssystem aufgezeigt hat.

Patrick Illinger: Aus der Wissenschafts-Community war sogar Erleichterung darüber zu hören, dass jemand endlich dieses Thema, das in der Community bereits gegärt hatte, aufgriff. Allerdings entschieden sich mehrere Informanten aus der Wissenschaft, mit denen wir im Rahmen der Recherche zu tun hatten, auch nach der Veröffentlichung anonym zu bleiben. Das hat mich ziemlich entsetzt. Selbst hochrangige Forscher, denen im Prinzip keiner etwas anhaben kann, hatten Angst vor den Konsequenzen. Das hatte uns schon während der Recherche irritiert. Leider haben wir gemerkt, dass Wissenschaft auch von Macht und Einfluss abhängt und nicht nur von Daten und Empirie.

Der von Ihnen recherchierte Fall ist sehr voraussetzungsreich und reicht von der Gehirnforschung bis in die Informatik. Wie kann man als Journalist sich in solche Spezialgebiete einarbeiten?

Krause: Die Geschichte nahm ja ihren Anfang, als sich der Informatiker Martin Spüler bei mir meldete: „Ich habe hier in einem Paper Unregelmäßigkeiten festgestellt.“ Da ich von Haus aus kein Informatiker bin, konnte ich das natürlich in der Detailtiefe nicht überprüfen. Bei solchen komplexen Themen bilden wir Teams, die Zeit der großen „Ego-Shooter“ ist im investigativen Journalismus gewissermaßen vorbei. Daher haben Patrick Bauer und ich auch die Kompetenz von Patrick Illinger eingeholt, der damals Leiter der SZ-Wissenschaftsredaktion war.

Illinger: Man muss aber klarstellen: Es geht gar nicht darum, dass wir als Journalisten eine wissenschaftliche Publikation abschließend bewerten oder beurteilen. Wir sind nicht Teil des Wissenschaftssystems. Unsere Aufgabe ist es, die richtigen Expert*innen zu finden und zu befragen. Ich könnte zwar anmerken, in einem früheren Leben selbst eine Doktorarbeit in Teilchenphysik geschrieben zu haben, die auf jeder Menge Statistik beruhte, sodass ich Birbaumers Paper verstehen konnte. Aber das ist nicht der Punkt. Es war unsere Aufgabe, Fachleute zu konsultieren, die genau wissen, wie man Daten einer Gehirn-Computer-Schnittstelle (Brain-Computer-Interface) auswertet, um herauszufinden, ob das in diesem Fall gelungen war. Das verneinten die besten Experten des Fachs. Als wir das direkte Gespräch mit Prof. Birbaumer gesucht haben, hat er die fachliche Kritik beiseite gewischt: „Das ist Informatiker-Geplänkel!“ Das hat mich erschreckt, denn die Frage, ob aus Hirnsignalen seiner Patienten Ja-Nein-Aussagen ableitbar sind, hängt von nichts anderem ab als der richtigen Datenanalyse. Birbaumer war überzeugt, dass es funktioniert, obwohl seine Datenanalyse mangelhaft war. Das ist keine Wissenschaft. Das ist Eminenz statt Evidenz.

Krause: Die gleiche Taktik hat Birbaumer dann auch gegenüber der Untersuchungskommission seiner Universität angewendet, die den Vorwürfen nachgegangen ist und zu einem ähnlichen Ergebnis kam wie später auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Es war seine Delegitimationsstrategie zu behaupten, dass eine solche Kommission nicht mit den Leuten auf seiner Flughöhe besetzt sei. Daran kann man auch sein Selbstverständnis ablesen: Nur er kann es verstehen.

Die in Ihrem Beitrag erwähnte wissenschaftliche Zeitschrift PLOS Biology hat sich in Sachen Transparenz nicht mit Ruhm bekleckert. »Eminenz statt Evidenz« – ist das Ihrer Einschätzung nach ein flächendeckendes Problem in der Wissenschaft?

Illinger: Die Fäden sind sicherlich an vielen Stellen gerissen, die Fachzeitschrift war eine davon. Nur ein Beispiel: Der Name eines Topwissenschaftlers aus den Niederlanden, der in der Publikation anfangs als „Academic Editor“ genannt worden war, wurde nach dem Aufkommen der Kritik plötzlich ausgetauscht. Ein Fehler, behauptete die Zeitschrift. Später wurde auf viele Arten versucht, die Kritik des Informatikers Martin Spüler an Birbaumers Paper im Sand verlaufen zu lassen. Selbst als Spüler durchsetzen konnte, dass seine Entkräftung veröffentlicht wird, hat die Fachzeitschrift Nebelkerzen gezündet und sehr lange gebraucht, um tatsächlich einen Warnhinweis zu publizieren und letztlich Birbaumers Publikation zurückzuziehen. Ähnliches Zögern haben wir auch in der Community der BCI(Brain-Computer-Interface)-Experten sowie an der Universität Tübingen festgestellt: Mehr als ein Rumoren kam anfangs nicht zustande. Bei vielen Beteiligten war die Haltung: Hoffentlich geht es bald vorüber, an Aufklärung war kaum jemandem gelegen. Man fürchtete um den Ruf des Fachgebiets und der Universität. Dass eine vollständige Aufklärung das Beste für den guten Ruf gewesen wäre, kam vielen Wissenschaftsfunktionären nicht in den Sinn. Übrigens hätte Birbaumer die ganze Affäre vermutlich klanglos beenden können, wenn er frühzeitig nachgegeben hätte.

Krause: Es gab schon länger Diskussionen um die Rechtschaffenheit des Papers, es gab dafür auch Belege in Form von Mails, Dokumenten, Gutachten und Gegengutachten – damit die Sache ins Rollen kam, mussten wohl erst wir auf den Plan treten.

Das Argument, dass man den falschen Leuten keine Argumente liefern sollte, wird auch in der Corona-Pandemie manchmal vorgebracht. Macht man sich als Journalist darüber auch Gedanken, dass man mit einem solchen Artikel das Wissenschaftssystem angreifbar(er) macht?

Illinger: Nicht wir Journalisten waren es, die ein fehlerhaftes Paper veröffentlicht haben und dann lautstark in die Öffentlichkeit unhaltbare Behauptungen aufgestellt haben …

Krause: … und damit auch vielen Patienten und deren Angehörigen falsche Hoffnungen gemacht haben.

Illinger: Es war ja sogar ein Gerät entwickelt worden, eine Infrarot-Kappe, auf Grundlage der fraglichen Publikation. Damit sollte angeblich die Kommunikation mit Patienten im „Completely locked in“-Zustand wieder möglich sein. Wenn aber völlig unbewiesen ist, dass dieses Gerät funktioniert, ist es ethisch mehr als fragwürdig, damit an Patienten zu gehen.

Krause: Wir haben uns als Journalisten die Aufgabe gestellt, Licht ins Dunkel zu bringen, Dinge aufzudecken und damit der Öffentlichkeit und Entscheidungsträgern Material an die Hand zu geben, Entscheidungen zu treffen – das haben sie ja auch getan, sowohl die Universität als auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft haben Birbaumer auch hart sanktioniert.

Der Informatiker, der die Ungereimtheiten in der Studie aufgedeckt hat, hat davon ja nicht profitiert, eher im Gegenteil.

Krause: Die Rolle von Whistleblowern sollte man nicht unterschätzen. Ohne Martin Spüler hätten wir die Geschichte so nicht machen können. Wenn jemand solche Missstände bekannt machen möchte, aber intern in seiner Institution keinen Rückhalt erfährt, sollte er sich vertrauensvoll an Journalisten wenden. Wir arbeiten sehr sorgfältig, was den Quellenschutz und die digitale Sicherheit von Informanten angeht. Ohne Whistleblower ist eine solche investigative Recherche kaum möglich. Aber es stimmt: Spüler hat seine Karriere riskiert, um der Wahrheit Genüge zu tun.

Professor Niels Birbaumer scheint ein charismatischer Wissenschaftler zu sein – muss die Öffentlichkeit aufpassen, die Wirkung einer Person nicht zu überschätzen? Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie sind viele Wissenschaftler in den Medien präsent, einige erreichen auch durch eine medientaugliche Ausstrahlung eine große Öffentlichkeit.

Illinger: Letztendlich sollte es nicht darum gehen, was ein Wissenschaftler für eine Ausstrahlung hat, sondern darum, was seine Daten, seine Theorien taugen, wie handfest seine Experimente und seine Expertise sind. Es hätte sich in der Corona-Pandemie auch ergeben können, dass der beste Virologe ein medial total unbegabter Mensch ist. Auch dann hätte man auf seinen Rat hören sollen. Man muss denjenigen Virologen befragen, der zu Corona-Viren forscht und nicht unbedingt den, der sich eher mit AIDS-Viren auskennt. Für unsere Recherche haben wir daher Ansprechpartner gesucht, die sich genau auf dem Gebiet der statistischen Analyse von BCI-Daten (Brain-Computer-Interface) auskennen. Ein x-beliebiger Neurologe oder Hirnforscher hätte uns nicht gereicht.

Krause: Ich glaube, dass charismatisches Auftreten sicherlich in allen beruflichen Bereichen irgendwie hilft, aber es sollte nicht das Prinzip sein, nach dem man Leistung beurteilt. Wenn beides vorhanden ist – umso besser. Natürlich ist es für uns Journalisten auch gut, wenn jemand versteht, wie Medien funktionieren und komplexe Themen herunterbrechen kann auf eine allgemeine Verständlichkeit. Birbaumer kann sicherlich gut wissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln, aber das fragliche Paper basierte nun mal auf einer falschen Auslegung von Daten.

Illinger: Wir hatten bei Professor Birbaumer auch den Eindruck, dass er sich gar nicht vorstellen konnte, dass ein Journalist ihn jemals kritisch sehen könnte. Er ist jahrelang hofiert worden, von Kollegen und der Öffentlichkeit. Für vieles zurecht. Aber das macht etwas mit Menschen. Übrigens gibt es weiterhin Kolleginnen und Kollegen, die sich um ihn scharen, Faktenlage hin oder her. Personenkult und Seilschaften gibt es nicht nur in der Politik.

Zum Schluss eine ganz allgemeine Frage: Vor welchen Herausforderungen stehen der Wissenschaftsjournalismus und die Wissenschaftskommunikation?

Illinger: Der Wissenschaftsjournalismus wird leider oft mit der reinen Übersetzung wissenschaftlicher Sachverhalte verwechselt. Der Journalist ist für viele der, der einfach in schönen Worten erklärt, was erforscht wurde. Das mag auch in vielen Fällen seine Berechtigung haben. Es führt interessanterweise auch dazu, dass Wissenschaftler, die gut kommunizieren können, mitunter als Wissenschaftsjournalisten engagiert werden, zum Beispiel im Fernsehen. Von solchen reinen Welterklärern werden sie aber kaum je eine Enthüllung hören, eine Aufdeckung von Fehlverhalten im akademischen Betrieb. Dafür brauchen Sie investigativ arbeitende Journalisten. Hier konnte ich von Till Krause und Patrick Bauer viel lernen.

Krause: Ein Beispiel dafür, wie Missstände aufgedeckt und zu einer nachhaltigen Änderung führen, war der Fall der sogenannten Raubjournale. Zu dem Thema hat ein großer Rechercheverbund gearbeitet, an dem ich auch beteiligt war. Diese Raubverlage laden Wissenschaftler ein, ihre Publikationsliste aufzujazzen mit Nonsense-Veröffentlichungen. Das ist wirklich ein betrügerisches System. In dem Rahmen hatten wir auch viel mit Hochschulpressestellen zu tun. Bei manchen Pressestellen traf man zuerst auf eine eher abwehrende Haltung. Von vielen kam dann aber nach der Prüfung der Fälle eine positive Rückmeldung: Das sei wirklich ein Problem, da habe man in der Vergangenheit nicht intensiv genug darauf geachtet. Mittlerweile werden an Hochschulen dazu Seminare angeboten, um Studierende und Nachwuchswissenschaftler dafür zu sensibilisieren. Kommissionen schauen bei Berufungsverfahren noch viel genauer hin. Seitdem ist auch die Veröffentlichung in solchen Raubjournalen gesunken. So gesehen hat der investigative Journalismus hier auch in Zusammenarbeit mit universitären Kommunikatoren einiges bewirkt.

Fragen: Dirk Frank

Goethe-Medienpreis prämiert journalistische »Grenzfälle«

Drei »Grenzfälle« stehen im Fokus der Verleihung des diesjährigen Goethe-Medienpreises für wissenschafts- und hochschulpolitischen Journalismus an drei herausragende Autorenteams bzw. Einzelautoren renommierter Medien. Prämiert werden drei Arbeiten, die 2019 und 2020 im SZ-Magazin der Süddeutschen Zeitung, der Wochenzeitung DIE ZEIT sowie im Norddeutschen Rundfunk publiziert wurden.

Der 1. Preis geht an Patrick Bauer, Patrick Illinger und Till Krause von der Süddeutschen Zeitung für ihre Arbeit »Wunschdenken«, erschienen am 11. April 2019 im SZ-Magazin. Der Preis ist mit 4000 Euro dotiert. Der mit 1800 Euro dotierte 2. Preis geht an die Journalistinnen Nele Rößler und Maja Bahtijarevic: Sie beschreiben den drastisch steigenden Einfluss sogenannter »Modellierungen « auf politische Entscheidungsprozesse, was öffentlich bisher kaum bekannt ist; sie bringen nach einem aufwendigen Rechercheprozess in ihrem Podcast (»Modellierungen – Nerdwissen im Fokus«, gesendet am 22. Mai 2020 im NDR) Licht ins Dunkel dieses Grenzgebiets zwischen digitalem Hintergrundwissen und politischen Entscheidungsstrukturen. Die mit 1000 Euro dotierte 3. Preisträgerarbeit von Martina Keller (»Tod wider Willen«, erschienen am 10. Juni 2020 in DIE ZEIT), führt die Leserinnen und Leser in das Grenzgebiet zwischen Leben und Tod – in diesem Fall in das ambivalente Gebiet der Sterbehilfe in den Niederlanden.

Der »Goethe-Medienpreis für wissenschafts- und hochschulpolitischen Journalismus«, den die Goethe-Universität Frankfurt am Main, gefördert von der FAZIT-Stiftung und dem Deutschen Hochschulverband, in zweijährigem Turnus ausschreibt, prämiert herausragende Beiträge auf dem Gebiet eines hochschul- und wissenschaftspolitischen Journalismus: Fundierte Analyse, Hintergründe, verständliche und stilistisch herausragende Darstellung sind die wichtigsten Kriterien für die Vergabe des Preises. Die Auswahl nimmt eine unabhängige, mit führenden Köpfen aus Journalismus und Wissenschaft besetzte Jury vor. Der Goethe-Medienpreis wird am 31. Mai 2021 im Rahmen der »Gala der Deutschen Wissenschaft« des DHV verliehen. Die Gala, die ausschließlich online stattfinden wird, wird gestreamt. www.hochschulverband.de/gala

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 3/2021 (PDF) des UniReport erschienen.

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