Die „Siebenundzwanzigste“: Spektakuläre Entdeckung der «Struwwelpeter»-Forschung

Umschlag der 27. Struwwelpeter-Auflage von 1859 nach der Ablösung des verdeckenden Titelblatts der 29. Auflage. Foto: Universitätsbibliothek Frankfurt am Main

Über Heinrich Hoffmanns Kinderbuchklassiker „Der Struwwelpeter“ ist in den 176 Jahren seit seiner „Geburt“ viel geschrieben worden, wobei es meist um die pädagogischen sowie literarischen Werte des Buches ging. Die Meinungen sind und bleiben geteilt. Den Kindern ist das, wie Peter von Matt (2009 im Reclam-Verlag) berichtet hat, völlig „Wurst“. Die Kinder lieben diese Geschichten, wie sie sind – mit oder auch ohne „Gänsehaut“! Weniger bekannt sind die verlegerischen Aspekte wie Auflagenplanungen zum „Struwwelpeter“. In solche buchhistorischen Details wollen wir uns mit diesem Text begeben. Als Hoffmann 1845 ein Büchlein „Lustige Geschichten und drollige Bilder“ für seinen damals dreijährigen Sohn zeichnete und dichtete, ahnte er nicht, dass sein Werk bereits ein Jahr später von dem frisch gegründeten Verlag „Literarische Anstalt“ (J. Rütten) in Frankfurt künftig äußerst erfolgreich verkauft wird. Allein im ersten Monat wurden 1.500 Exemplare verkauft. Ein Jahr später waren es mit drei Auflagen bereits 8.000 Exemplare.

Im selben Jahr wurde der Verlagsvertrag zwischen Heinrich Hoffmann und der Literarischen Anstalt aufgesetzt und unterzeichnet. Im Vertrag vereinbarte man Exklusivität für den Verlag, einen niedrigen Verkaufspreis, einen schwachen Buchrücken, einfache Zeichnungen und Texte, selbstverständlich auch Tantiemen: 30 Gulden pro 1.000 verkaufte Exemplare. Da die Druckauflagen in Verkaufsauflagen mit fortlaufender Nummerierung gekennzeichnet wurden, ergibt sich für die Nachwelt eine gewisse Übersichtlichkeit. Der bemerkenswerte Verkaufserfolg dieses Buches bis 1924 (dem Ablauf des Copyrights) wird dadurch noch besser nachvollziehbar. Die erste von Hoffmann gestaltete Version erreichte 26 Auflagen. Ab der 27. bis zur 31. Auflage stellte Hoffmann seine zweite gestaltete Version der faszinierten Kinderwelt vor. Das Originalmanuskript dieser Überarbeitung wird in der Universitätsbibliothek Frankfurt aufbewahrt. Offensichtlich war die neue, hüftlange Haarpracht des Struwwelpeters nicht so überzeugend. Denn Hoffmann entschied, ab der 31. Auflage die Frisur nochmals neu zu gestalten, mit dem bis heute gültigen „Afrolook“. Aus der kurzen Zeitspanne zwischen der 27. und 31. Auflage sind heute nur wenige erhaltene Exemplare der 28. sowie der 29. Auflage mit Originalbuchdeckel bekannt. Von der 30. Auflage konnte zumindest der Inhalt des Buches bei Kollationsvergleichen identifiziert werden.

Bisher gab es Hinweise auf die 27. Auflage in Form von Neuankündigungen in anderen Kinderbüchern Heinrich Hoffmanns und einige wenige Presse-Rezensionen, welche sich auf ihr Erscheinen bezogen. Ein definitiver, haptisch greifbarer Nachweis der 27. Auflage war bis Ende 2021 nicht erbracht. Seit Jahren werden in der schweizerischen Struwwelpeter-Sammlung der Forschungsbibliothek dohaböhme Struwwelpeter-Auflagen in Form von allgemein zugängigen Originalen oder Scans im Autopsie-Verfahren genaustens miteinander verglichen. Veränderungen bei Bild, Text, Satzspiegel, Buch- und Blattqualität werden selbst bei minimalsten Unterschieden erfasst und dokumentiert. Im Verlag war es üblich, bei neuen Auflagen auch mit farblichen Änderungen der Umschlagsblätter einen verkaufsfördernden Effekt zu erzielen. Mitunter wurden dann die andersfarbigen Buchdeckel mit der neuen Farbversion überklebt. Dank langjähriger Sammlungstätigkeit und Erkenntnissen kommen bei restaurierten Buchdeckeln unter den Überklebungen gelegentlich interessante Entdeckungen zum Vorschein.

Diese Erfahrungen wurden in den letzten 30 Jahren in der Struwwelpeter-Sammlung der Forschungsbibliothek dohaböhme erfolgreich genutzt. Dort ergab die bei der autoptische Untersuchung einer 29. Auflage des Struwwelpeters aus der Universitätsbibliothek Frankfurt, dass dieses Exemplar nicht nur einen leicht lädierten Einband besass, sondern darunter sogar ein andersfarbiger Einband im Ansatz zu erkennen war. Der Verfasser konnte die Bibliothek anregen, das Buch zu untersuchen und den Umschlag mit der Nummerierung, 29. Auflage abzulösen. Da der Einband insgesamt reparaturbedürftig war, entschied die Bibliothek dem Vorschlag zu folgen. Alle waren gespannt, was zum Vorschein kommen wird. Erscheint eine Farbvariante der 29. Auflage oder gar eine andere Auflage? Zur großen Freude entdeckten die Restauratorinnen der Universitätsbibliothek einen Original-Umschlag der 27. Auflage. Endlich gibt es einen Nachweis, dass die 27. Auflage tatsächlich erschienen war.

Der Autopsie-Vergleich in der dohaböhme bibliothek & archiv ergab, dass zwischen dem Deckblatt der 27. Auflage und dem der 28. Auflage mit Ausnahme der farblichen Gestaltung textlich und gestalterisch kein Unterschied besteht. Da bereits zu einem früheren Zeitpunkt die Inhaltsseiten der 29. Auflage mit der 28. Auflage in Autopsie verglichen und weder bildliche noch textliche Unterschiede festgestellt wurden, kann davon ausgegangen werden, dass die Seiten aus dem gleichen Druckvorgang stammen. Da die Seiten des Exemplars in der Bibliothek der Universität Frankfurt auf Leinen aufgeklebt sind, bestätigt dohaböhme, dass eine komplette 27. Auflage unter dem Einband der 29. Auflage verborgen war. Dieses Exemplar wurde wahrscheinlich zu einem späteren Zeitpunkt für Marketingüberlegungen auf Leinen aufgezogen und mit dem Deckblatt einer 29. Auflage aus Aktualitätsgründen überklebt. Bedeutend ist, dass alle drei Auflagen (27./28./29.) mit einem Übertitel „Neue, völlig umgearbeitete Ausgabe!“ gekennzeichnet sind. Der Vergleich der 28. und somit auch der 27. Auflage mit einem als 30. Auflage indizierten Exemplar aus dem Struwwelpeter Museum in Frankfurt zeigt minimale textliche Unterschiede.

Fazit: Es bestätigt sich hiermit, dass die Druckauflage mit der langhaarigen Neuversion des Struwwelpeters offensichtlich in den Auflagen 27 und 28 identisch sind, da in der 30. Auflage ein Ausrufezeichen auf Seite 11 in der zweiten Zeile hinter dem Wort «Mohrenkind» ergänzt wurde. Außerdem gibt es in den Auflagen 27 und 28 minimale Druckausbrüche, die in der 30. Auflage nicht mehr vorkommen. Das Deckblatt der 29. Auflage unterscheidet sich auch durch eine leichte linksbündige Verschiebung des Wortes «Der» über dem Wort «Struwwelpeter» deutlich von der 27. und der 28. Auflage. Diese Erkenntnisse und der Fund des Deckblattes der 27. Auflage sind eine Sensation für die Struwwelpeter-Welt. Es benötigte 176 Jahre, um diese interessante Entdeckung zu machen.

Autor: Hasso Böhme, dohaböhme bibliothek & archiv, Unterengstringen, Schweiz, https://doha-bba.com/

Digitalisat des besprochenen Struwwelpeter-Exemplars der 27./29. Auflage

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